Polizei in Stuttgart schon wieder übergriffig – mehrere Verletzte

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Seit 22 Tagen heißt der neue B/W-Innenminister Reinhold Gall. Er ist Mitglied der SPD. Als während der Koalitionsverhandlungen im April bekannt wurde, dass Gall für das Innenressort vorgesehen war, machte sich Unmut und Unverständnis vor allem unter den Gegnern von S21 breit. Erinnerte man sich doch noch zu gut daran, dass es u.a. Reinhold Gall war, der sich, zusammen mit CDU und FDP, vor ein paar Monaten vehement gegen einen Untersuchungsausschuss zum Schwarzen Donnerstag (brutaler Polizeieinsatz am 30.9. im Stuttgarter Schlossgarten gegen Bürger mit über 400 z.T. Schwerverletzen im Zusammenhang mit S21) einsetzte. Gall werden auch exzellente Beziehungen zur Polizei B/Ws nachgesagt -gemeint ist die Zeit vor dem Regierungswechsel, die Zeit von Mappus, Rech & Co. also.

Nach dem Rücktritt des alten Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf, der in Folge des 30.9. schwer unter Druck geriet, aber erst nach der Landtagswahl freiwillig weichen wollte, hat Stuttgart seit 3 Tagen auch einen neuen Polizeichef, Thomas Züfle: „Ich werde auf Kommunikation und Dialogbereitschaft setzen und auf alle zugehen“ zitierte ihn am Dienstag die StZ.

Heute nun sollte eine angemeldete und genehmigte Veranstaltung der „Bürgerbewegung Pax Europa“ und von pi-news im Rahmen eines „großen islamkritischen Wochenendes in Stuttgart“ auf dem first-class-Demo-Areal der Stadt, dem Schlossplatz stattfinden. Der Verein, dessen angegliederter BPE-Verlag den bekannten Schmöker von Sarrazin wie auch eine DVD mit Geert Wilders Rede in Berlin 2010 verhökert, und der sich selbst der jüdisch-christlichen Tradition verpflichtet fühlt, sieht als eines seiner Hauptanliegen „über die schleichende Islamisierung Europas aufzuklären“. Selbstverständlich und nach eigenem Bekunden „richtet [er] sich nicht 'gegen die Muslime'“ dabei. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in bekömmlich-gutbürgerlichem Gewand (einen ausdrücklichen Dank an die SPD -besonders an S. Gabriel und an A. Nahles- noch einmal an dieser Stelle, die es nicht schafften, Sarrazin loszuwerden; so macht man diese geistigen Übel salonfähig).

Eine Initiative aus zahlreichen antifaschistischen, linken und Gewerkschaftsgruppen mit dem Namen „No Racism In Stuttgart“ initiierte eine Gegendemonstration. Gegen 15 Uhr erreichte diese ca. 300 Teilnehmer zählende Demo den Schlossplatz. Dort stand bereits ein massives, hochgerüstetes Polizeiaufgebot inklusive berittener Polizeistaffel bereit. Einer kleinen Gruppe, darunter viele junge Mädchen, gelang es dennoch, die für die Veranstaltung der BPE vorgesehene Bühne mit einem Transparent gegen Rassismus zu besetzen. Sie wurden augenblicklich von zahlreichen Polizeibeamten umringt, die sowohl die Gruppe als auch das Transparent abdeckten.

Dann ging alles sehr schnell: Die Polizei gab im Sekundenabstand über Lautsprecher zwei unverständliche Warnungen, die möglicherweise zur Räumung der Bühne auffordern sollten (denn was folgte, ließ einzig darauf schließen). Etwas seitlich abseits stehend war zu beobachten, dass die abgeschirmte Gruppe auf der Bühne mit äußerster Brutalität „geräumt“ und abgeführt wurde. Die vor der Bühne Protestierenden nahmen dies dennoch wahr; ein lärmendes Schieben in Richtung Bühne vollzog sich, vor der eine Polizeikette Position bezogen hatte. Die Polizei setzte sofort Schlagstöcke ein. Ein Vorgesetzter sagte -für den Beobachter hörbar und deutlich- zu einem Untergebenen, dass „wenn die nochmal schieben, dann sofort...“ und deutete auf eine große Druckflasche mit Pfefferspray. Die zweite empörte, schiebende Welle erfolgte nur einige Sekunden später. Ebenso so der massenweise Einsatz von Pfefferspray, so dass der Platz vor der Bühne augenblicklich übersäht war mit hustenden und sich die Hände vor das Gesicht schlagenden jungen Menschen.

Im weiteren Verlauf errichtete die Polizei eine weiträumige Absperrkette vor und rund um die Bühne, so dass die Veranstaltung der Rechtspopulisten endlich statt finden konnte. U.a. sprach auch der Amerikaner Robert Spencer, der den Gegendemonstranten (unter ihnen auch viele Ältere des VVN-BdA) zurief, dass sie „das Böse“ und „das Gesicht des neuen Faschismus in Europa “ seien. Auf diese und ähnliche Provokationen anderer Redner hin flogen einige Gegenstände in Richtung Bühne, die aber niemanden verletzten oder sonstigen Schaden anrichteten. Das Publikum der eigentlichen Veranstaltung erschöpfte sich in etwa 5-7 rüstigen Rentnerinnen und Rentnern, die aber kaum zuhörten, da sie hauptsächlich damit beschäftigt waren, ihre Mittelfinger zu Stinkefingern gegen die jungen Leute zu koordinieren, bzw. demonstrativ, aber an falschen Stellen zu klatschen. Dieser Teil des Spuks endete nach etwa 25 Minuten.

Eine genaue Zahl der Verletzten liegt bislang nicht vor. Beobachtet wurden allerdings mehrere große Platzwunden, einige leichte Knochenbrüche und zahlreiche Augenverletzte, die z.T. in die Augenklinik des Stuttgarter Diakonieklinikums eingeliefert werden mussten. Ein Bundestagsabgeordneter, der sich als solcher gegenüber der Polizei auch auswies, wurde vor der Räumung der Bühne zunächst vorgelassen, um dort zu vermitteln, wurde aber während seines Vermittlungsversuchs von der Räumung überrascht und ebenfalls durch die Polizei verletzt. -Heute ist übrigens & ironischerweise wieder ein Donnerstag. Der zweite Schwarze Donnerstag in Stuttgart?

In den Medien (StZ, StN, SWR) wurde und wird bislang nicht über diese Vorfälle berichtet. ...aber selbst die Polizei wusste bis eben nicht, was da passiert war (letzte PM von 23:03 Uhr)...

Jedoch Cams21 war gleich mehrfach zur Stelle, berichtete live im Internet (siehe bambuser-Video hier unten).

Und im Blog von 7h3linguist gibt es eine Fotostrecke, weitere Informationen und laufende Updates.







Update 3.6.11, 12:30 Uhr

Inzwischen hat auch die Polizei selbst bemerkt, dass etwas passiert sein muss, wie aus ihrer PM hervorgeht. Allerdings scheint sie, so der Gesamteindruck der PM, an einem anderen Einsatz teilgenommen zu haben. -Was die Stuttgarter Qualitäts-Medien nicht davon abhält, diese PM unkommentiert und nicht gegenrecherchiert zu kolportieren...

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