1964: Aus der Vogelserie

Zeitgeschichte Vor 50 Jahren rollt in Suhl Simsons erstes Mopedmodell KR 51 vom Band. Bald wird die Schwalbe zum Volksvehikel, zu einem Emblem der DDR und einem veritablen Filmstar
Ausgabe 44/2014

Die Geschichte der Schwalbe kann man auf viele Weisen erzählen. Etwa als Skizze zu einer unbedingt noch zu verfassenden Bachelorarbeit (Fachbereich Kulturwissenschaft) unter dem vorläufigen Titel Heizen übers Feld – Der Schwalbe genannte Simson-Kleinroller 51 im Lichte seiner filmischen Repräsentation. Zentrale Referenz der frühen Erfolgsgeschichte des Kraftrads wäre Otto Holubs Film Schwester Agnes von 1975. Darin düst die Brecht-Schauspielerin Agnes Kraus (ohne Helm) auf einer Schwalbe durch das hübsche, fiktive Dorf Krummbach in der Oberlausitz. Agnes ist Gemeindeschwester, eine schnelle medizinische Hilfe auf zwei Rädern, die freilich nicht nur bei gesundheitlichen Problemen vermittelt, sondern auch zwischen Volk und Führung im idyllischen Mikrokosmos von Krummbach.

Auf dem Gefährt sitzt sie eher unbeteiligt, aber Agnes Kraus ist Volksschauspielerin genannt worden, und was anderes sollte eine Volksschauspielerin fahren als ein Volksvehikel? Ruf und Einsatzort der Schwalbe werden in Schwester Agnes gut zehn Jahre, nachdem die ersten Kleinkrafträder dieses Namens das Suhler Werk verließen, präzise bilanziert: Die Schwalbe ist ein Landei, man findet sie idealerweise unter dem Hintern eines eher wohltemperierten Charakters. Die Eleganz des Knieblechs, das die Schwalbe unterscheidet vom Rest der Familie, der sogenannten Vogelserie von Simson (Star, Spatz, Sperber, Habicht), ist für junge Leute, die noch kein Auto fahren dürfen und ihrer Adoleszenz Luft verschaffen müssen, eben: lässlich. Dolce-Vita-hafte Vespa-Anmut interessiert erst in späteren Jahren.

Was nicht heißt, dass die Schwalbe nur von seriösesten Amtspersonen gefahren worden ist (und einzig auf dem Land). In Hannes Schönemanns leider sehr selten gezeigtem Dokumentarfilm Sonnabend, Sonntag, Montagfrüh von 1978 wird zwar wiederum Landjugend beobachtet, die fürs Wochenende von den Lehrstellen in der nächstgrößeren Stadt zurückkommt ins Heimatdorf. Neben Disco gehört aber zum Zeitvertreib – das gepflegte Knattern über schneebedeckte Felder. Auf der Schwalbe (ohne Helm). Heute denkt die innere Helikoptermutter sofort: Was da alles passieren kann! Für damals ist das aber Ausdruck einer gewissen Robustheit; anders als die Vespa (10 Zoll) hat die Schwalbe nämlich ziemlich große Räder (20 Zoll). Und das sind dann Wendungen, die Geschichte machen. Dass es die Schwalbe heute noch gibt, hat mit dieser Robustheit zu tun.

Bis 1986 wird, in zwei Serien (1964 bis 1979 und 1980 bis 1986), die Schwalbe gebaut. Was aber nicht der Grund ist, warum man sie am Anfang von Heiner Carows DEFA-Film Coming Out vermissen kann. Da fährt der Lehrer Philipp (Matthias Freihof) durch den Ostberliner Berufsverkehr – auf einem Fahrrad (ohne Helm, kein Radweg). Natürlich kann man so seine Protagonisten besser zeigen (als hinter einer Autoscheibe oder in der S-Bahn). Aber es sagt eben auch etwas über Nonkonformismus und Individualität, wenn jemand nicht als Teil der Nahverkehrsmasse an einer Station aus dem Untergrund quillt, sondern strahlend durch das Meer aus Blech navigiert. Ein Film, der ähnlich anfängt, ist Sydney Pollacks Die drei Tage des Condor (1975). Darin bewegt sich Robert Redford zum Beweis seines Nonkonformismus und seiner Individualität auf einem ziemlich drolligen Zweikraftrad durch den Verkehr von New York. Nun ist Robert Redford auf der Höhe seines Ruhms ein anderes Kaliber als der junge Matthias Freihof 1989; und die Lässigkeit eines Stars besteht eben darin, aus Gründen der Differenz das eher gemütliche Gerät fahren zu können, ohne dass das Bild von der eigenen Männlichkeit Schaden nimmt.

Es ist schon interessant, sich zu fragen, warum Philipp nicht Schwalbe fährt, gerade weil Coming Out von Redford weiß und ihn schätzt (eine der Figuren, Axel Wandtkes Jacob, heißt so mit Spitznamen: Redford). Die Antwort: Für das, was den feinnervigen Philipp umtreibt, ist die Schwalbe zu grob, zu lahm, zu populär; Philipps Außenseitertum, das öffentliche Leben mit dem versteckten, eigenen Begehren, lässt sich so nicht abbilden. Und die Schwalbe ist zu diesem Zeitpunkt auch: zu oll, zu unmodern. Philipp ist eine kultivierte, moderne Figur, er geht ins Theater und steht für Barenboim im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt Schlange.

Alles, was wiederentdeckt werden kann, muss einmal verschwunden sein. Heute ist die Schwalbe dicke da, also auch im Film. Das hat wiederum pragmatische Gründe: Es herrscht kein Mangel an Exemplaren, sie ist günstig, es muss viel DDR illustriert werden. (Und es spricht dann für das Wissen von jugendkulturellen Codes in Sonnenallee, dass dort ein Habicht vorkommt, während der äußerlich gedachte Film Good Bye, Lenin eine eher merkwürdige Schwalbe präsentiert.) Die Entscheidung für die Schwalbe ist eben auch eine künstlerische, die Auskunft gibt über den Stand von Mode und Geschichte.

Und deshalb wird die Erfolgsgeschichte der Schwalbe, der endgültigen Simson-Betriebsschließung (2003) und Produktionseinstellung (wie gesagt: 1986) zum Trotz, am besten in einer von Til Schweiger produzierten Komödie namens Großstadtklein aus dem vergangenen Jahr gewürdigt. Da ist die Schwalbe nämlich wieder da, wo sie angefangen hat: auf dem Feldweg, auf dem Land. Und sie kommt da an, wo sie heute Eindruck macht: auf den Straßen, in der Stadt. Ole (Jacob Matschenz) muss nämlich nach Berlin ziehen, nimmt das Gefährt aber mit. Der Name Til Schweiger ist hier wichtig, weil dessen Filme – die eigenen wie die produzierten – mit großem Eifer ein bestimmtes Verständnis von Geschmack verbreiten: einen unterdistinktiven Generalchic, ein grobschlächtiges Weltdesignerbe.

Dass die Schwalbe da hineingehört, kann sie als Gewinn verbuchen, schon weil es bedeutet, nicht mehr als Symbol für die Mangelwirtschaft der DDR herhalten zu müssen (eine Wahrnehmung, aus der sich der Trabant wohl nie befreien kann). Dabei ist sie das auf eine Weise – Emblem einer Planwirtschaft, der irgendwann die Möglichkeit zur Erneuerung abhandenkam. Gleichzeitig steckt in der Stagnation die Erklärung für die aktuelle Popularität: Nur weil die Schwalbe äußerlich unverändert geblieben ist, taugt sie heute unter lauter billig mit Plastik verkleideten Zweikrafträdern als Projektionsfläche zeitloser Schönheit und Solidität.

Ein anderer Witz ist der, den man in Großstadtklein beobachten kann: Dass ein Fortbewegungsmittel für Massen (insgesamt wurden etwa 1,6 Millionen Schwalben gebaut), ein uniformer Kleinroller, der keine Markenkonkurrenz kannte im limitierten DDR-Konsum, heute zum Ausweis von allergrößter Individualität befähigt – Zweiradtechnik Schilling im thüringischen Kraftsdorf baut für 8.000 Euro luxuriöse Unikate zusammen (mit passendem Helm). Ironien der Geschichte.

Die finden sich auch in der Firmenhistorie, der die Bielefelder Historikerin Ulrike Schulz im Vorjahr eine Betrachtung gewidmet hat (Simson: Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856–1993,Wallstein Verlag, 464 Seiten, 34,90 Euro). Der jüdische Name, der trotz Enteignung 1935 und Verstaatlichung 1952 überlebt hat und heute wegen der Schwalbe mit DDR assoziiert wird (wenn überhaupt: siehe Til Schweiger), stand zuerst für Waffenproduktion. Erst Ende des 19. Jahrhunderts kamen Fahrräder, dann Kraftwagen und Krafträder dazu. Überleben konnte Simson nach dem Versailler Vertrag nur, weil die Firma einen exklusiven Deal mit der Reichswehr hatte. Diese Kontinuität in der Waffenproduktion verschaffte dann wiederum den Nazis einen effizient arbeitenden Rüstungsbetrieb.

Von dieser Perspektive aus betrachtet, wird die putzige Schwalbe zu einem nicht unwichtigen Teil eines noch größeren Zusammenhangs, in dem sich alles findet, was deutsche Geschichte seit der Idee von so was wie Deutschland ausgemacht hat. Das als Film zu erzählen wäre mal eine Aufgabe.

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