Fast hat es den Anschein, als soll diesmal nachgeholt werden, was bisher zu oft versäumt wurde: Die DDR-Mannschaft trumpft in einer selbstbewußten Art auf, daß es Beifall auf offener Szene gibt.“ Die Worte stammen aus einem im Ostberliner Sportverlag erschienenen Buch zur EM 1984. Sie beziehen sich auf den letzten Spieltag in der Qualifikation, als die DDR 2:1 gegen Schottland gewinnt. Doch die Messen sind gesungen. Die DDR fährt nicht nach Frankreich, aber sie spielt endlich so, dass sich Begeisterung andeutet.
Diese verhalten freudigen Worte könnten auch über dem letzten Auftritt einer DDR-Equipe am 12. September 1990 in Brüssel gestanden haben, als Belgien durchaus überraschend 2:0 geschlagen wurde – von einer Mannschaft, die so nie zusammengespielt hatte und so nie wieder zusammenspielen würde. Matthias Sammer, der beide Treffer erzielte – das 500. und 501. Tor einer DDR-Auswahl im 293. Länderspiel –, war Kapitän und prominentester Spieler in der Rumpfauswahl des verschwindenden Landes.
Nach verlorenen Schlachten muss man Komödien spielen. Tatsächlich erscheint jenes letzte Länderspiel von heute aus betrachtet wie eine Ironie der Geschichte. Am jenem 12. September geht in Moskau mit der Unterzeichnung der Zwei-plus-vier-Verträge zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Besatzungsmächten die Nachkriegszeit zu Ende, der Weg zur Wiedervereinigung drei Wochen später ist frei. Die Partie gegen Belgien wirkt nicht nur deshalb wie ein Rest, wie etwas, das keiner mehr braucht.
Am 2. Februar 1990 war die DDR in Qualifikationsgruppe 5 zur EM 1992 gelost worden – gemeinsam mit Belgien, Wales, Luxemburg und der BRD. Doch erwies sich die UEFA-Planung bald als überholt, die anstehende Fusion des ost- und westdeutschen Fußballverbands ließ die DDR kurzerhand aus dem Tableau verschwinden – die Begegnung in Brüssel wurde zum Freundschaftsspiel deklariert. Symptomatisch für die Zeit der Unordnung wurde 1992 mit Dänemark eine Mannschaft Europameister, die erst als Nachrücker zum Turnier nach Schweden gereist war – für das wegen des Bürgerkrieges suspendierte Jugoslawien,
Die Motivation für das letzte Spiel der DDR war entsprechend gering. Gerade 14 Spieler bekam Nationaltrainer Eduard Geyer zusammen, 22 sagten ihm ab, darunter die Dolls, Kirstens und Thoms, die großen DDR-Namen jener Jahre. Die Gründe waren fadenscheinig – angebliche Verletzungen – bis opportunistisch. Dirk Schuster etwa, heute Trainer beim just wieder in die höchste Spielklasse aufgestiegenen SV Darmstadt 98, der ein paar Monate zuvor noch zum Testspiel nach Brasilien mitgefahren war, sah sich bereits als „BRD-Bürger“ und damit nicht mehr adressiert, für Schwarz-Rot-Gold mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz aufzulaufen.
Folglich gibt der damals 24-jährige Matthias Sammer, seinerzeit schon in Diensten des VfB Stuttgart, die interessanteste Personalie des Spiels ab. Es geht die Geschichte, dass Sammer am liebsten sofort wieder abgereist wäre, als er – angekommen in Kienbaum, dem heute noch genutzten DDR-Hochleistungssportzentrum östlich von Berlin – das karge Häuflein an Mitspielern sah. An der Seite von Auswahldebütanten wie Jörg Schwanke, Jens Schmidt oder Jens Adler konnte man sich durch eine blamable Partie nur die Reputation versauen. Doch überredet Trainer Geyer seinen Spielführer schließlich zum Bleiben. Auch geht an jenem Abend kein Flugzeug mehr aus Berlin nach Stuttgart.
Und so wird Sammer zum großen Gewinner des Länderspiel-Abends. Während sich Schwanke, Schmidt und Adler in der Länderspielstatistik verewigen, die vom DFB mittlerweile klaglos gesamtdeutsch geführt wird, sichert sich der Kapitän durch die beiden Tore zum Sieg einen Platz in den Geschichtsbüchern. Der nimmt sich – gemessen an späteren Erfolgen als Spieler, Trainer und DFB-Sportdirektor – randständig aus, bezeichnet innerhalb dieser glänzenden Karriere aber einen bemerkenswerten Punkt, weil Sammer sich damals für das Richtige entschieden hat. Im September 1990 gegen einen Auftritt für die DDR zu votieren, ist kein Akt von Rebellion, sondern Ausdruck von Ignoranz oder individuellem Kalkül. Dagegen erscheint Sammers Mittun als größere Geste, weil man sie mit Begriffen wie Anstand, Loyalität und Glaubwürdigkeit assoziieren kann.
Wo andere mit dem verschwindenden Land nichts mehr zu tun haben wollen, sorgt Sammer für einen würdevollen Abschluss des DDR-Auswahlfußballs. Im Mai 1991 wird er, neben Thomas Doll, zum Kader des gesamtdeutschen Teams gehören, das Belgien 1:0 besiegt. Das letzte Spiel der DDR-Nationalmannschaft ist insofern auch ein entscheidendes Puzzleteil in Sammers Laufbahn, die wie kaum eine andere den um Anerkennung ringenden DDR-Hochleistungssport mit dem aus kommerziellen Gründen um ständige Optimierung ringenden Profifußball des Westens kurzschließt. Weiter als Sammer hat es kein Spieler aus der DDR im bundesdeutschen Fußball gebracht. Sein Beispiel lehrt, wie der „Was dich nicht umbringt, macht dich härter“-Leistungsdruck der DDR-Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) bruchlos im nervös-elitären Großgemaule erfolgreichen Sportmanagertums aufgehen kann.
„Fast hat es den Anschein, als soll diesmal nachgeholt werden, was bisher zu oft versäumt wurde: Die DDR-Mannschaft trumpft in einer selbstbewußten Art auf, daß es Beifall auf offener Szene gibt“, sind auch Worte, die den DDR-Fußball als Ganzes gut beschreiben. Denn nach dem historischen Sieg bei der WM 1974 gegen den Systemgegner und späteren Weltmeister BRD und dem Gewinn des olympischen Turniers 1976 schreiben die folgenden internationalen Auftritte die Geschichte fortwährender Insuffizienz. Nach 1974 gelingt keine Teilnahme an einer WM- oder EM-Endrunde mehr. Auf Klubebene bleibt das von Lok Leipzig verlorene Finale im Europapokal der Pokalsieger 1987 das einzige Highlight der 80er Jahre. Derweil produziert das hochspezialisierte Förder- und Dopingsystem in anderen Disziplinen zur gleichen Zeit große Erfolge: Am Ende der Olympischen Sommerspiele 1988 in Seoul steht das kleine Land wie schon 1976 hinter dem großen Bruder Sowjetunion auf Platz zwei – nicht nur weit vor der Bundesrepublik, sondern auch vor den USA.
Im Fußball könnte man die DDR bei einer pragmatischen Lesart des Begriffs als „verspätete Nation“ beschreiben. Gut lief es zumeist erst dann, wenn es um nichts mehr ging. Für 1986 fehlte ein Punkt aus dem Hinspiel gegenüber dem schließlich nach Mexiko zur WM reisenden Bulgarien. Und am WM-Turnier 1990 in Italien nimmt die DDR nicht teil, weil sie im letzten Qualifikationsspiel gegen Österreich untergeht.
In diesem Sinne ist das 2:0 am 12. September 1990 in Brüssel ein passender Schlusspunkt der DDR-Fußballgeschichte. Überdies ist das Spiel unter den drei letzten Partien der DDR das schönste, weil friedlich und versöhnlich, die Goodbye-Lenin-Variante, wenn man so will. Das letzte Pflichtspiel am 15. November 1989 – eben jenes 0:3 gegen Österreich (alle Tore: Toni Polster) –, das die entscheidenden beiden Punkte gegen den bis dato gleichrangigen Konkurrenten kostet, steht schon im Zeichen des Mauerfalls sechs Tage zuvor. Berater und Manager von Westklubs belagern die Spieler, aus denen Trainer Eduard Geyer ein WM-Ensemble formen wollte. Die geschäftlichen Einzelinteressen verdrängen die gemeinsame Idee.
Das andere, das dritte, das wirklich letzte Spiel einer DDR-Mannschaft findet nicht statt. Die wie das Belgien-Match aus dem EM-Qualifikationskalender resultierende Begegnung DDR gegen BRD sollte am 21. November im Leipziger Zentralstadion zum Vereinigungsspiel umfunktioniert werden – wegen des grassierenden Hooliganismus und befürchteter Ausschreitungen wird darauf verzichtet. So verabschiedet sich die DDR mit einem Sieg gegen Belgien und zwei Toren von Matthias Sammer aus den Annalen des Weltfußballs.
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