Die Wahrnehmung einer Stadt hängt davon ab, wie man sich durch sie bewegen kann. Das Ordnungsprinzip dieser Bewegung ist der Verkehr, der notwendig ist, um die Menschenmassen zu kanalisieren. Denn eigentlich leben schon in jeder Stadt, die über eine Buslinie verfügt, zu viele Menschen. Der Anteil, den ein gut organisierter Verkehr am sozialen Frieden hat, wird zumeist unterschätzt. Verkehr ist das, was zwischen zwei Terminen geschieht, die Begleitmusik des Alltags, derer man sich erst bewusst wird, wenn sie aus dem Takt kommt. Also etwa wenn man in einen Stau gerät.
In der Ersten Welt, wo die Städte relativ langsam und in Wohlstand gewachsen sind, ist der Verkehr ausdifferenziert. Das führt, wie in einigen deutschen Großstädten, zu solch speziellen Errungenschaften wie einem räumlich und zeitlich flexiblen Fahrradverleih, um noch den Weg zwischen dem Zielort und der nächstgelegenen U-Bahnstation zu verkürzen.
In der Dritten Welt verdankt sich das rasante Wachstum der Städte der Armut. Dementsprechend sind die eingeschränkten Möglichkeiten der Fortbewegung Ausdruck eines sozialen Gefälles, wenn nicht sogar: eines sozialen Unfriedens. Die wenigen existierenden Alternativen werden zusätzlich beschnitten durch die Sorge um Sicherheit. Der Hubschrauber, wie er von einigen wenigen in brasilianischen Metropolen genutzt wird, ist Kapitulation vor und Absage an die Idee gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Schon das Auto atomisiert die Stadtwahrnehmung, weil nichts mehr ins Blickfeld gerät, was der Fahrer nicht sehen will - seien es Mitfahrer oder unvermeidliche Passagen zwischen Start und Ziel. Die Größe eines Molochs reduziert sich für den privilegierten Betrachter deshalb auf das Dorf seiner Interessen; die Slums und Massenwohnquartiere sind - ähnlich wie Vorstädte der Ersten Welt, wenn auch in viel größerem Maße - ein Fall für die Statistik.
Shanghai, die chinesische Wirtschaftssonderzone, ist so gesehen die Schwelle zwischen beiden Welten - differenzierte Großstadt und gesichtsloser Moloch zugleich. Ein Scharnier, das droht aus der Fassung zu springen, weil die Unterfütterung des Wachstums mit den Mitteln der Infrastruktur immer hinterher hinkt. Sinnbild dieser überholenden Modernisierung ist die Magnetschwebebahn, der dreißig Jahre alte Traum von zukünftiger Fortbewegung, der hier doch zum ersten Mal realisiert wurde und den Shanghai nun exklusiv hat. Der Transrapid führt ein merkwürdiges Missverhältnis vor Augen, das sich ansatzweise schon in europäischen Schnellzügen erahnen lässt. Die Zeit, die das Reisen selbst kostet - acht Minuten für dreißig Kilometer zwischen Flughafen und U-Bahnstation - ist beinahe geringer als jene, die das Ticket-Kaufen, Einchecken und das Warten erfordert.
Die Magnetschwebebahn steht auch in einem Missverhältnis zum restlichen Verkehr der Stadt, sie strotzt vor Kraft und Überlegenheit wie ein Leistungssportler, der sich auf ein Amateur-Sportfest verirrt hat. So wird das U-Bahnnetz erst zur Weltausstellung 2010 die einigermaßen adäquate Größe von zehn Verbindungen erreicht haben. Die derzeit vier Linien, die seit der Öffnung 1990 entstanden sind, funktionieren ob mangelnder Umsteigemöglichkeit noch wie Vorortzüge. Immerhin haben Metro und steigende Automobilisierung den Busverkehr entlastet, an dem teilzunehmen vor zehn Jahren noch eine Frage körperlicher Durchsetzungskraft war. Die Buslinien sind weit verzweigt und noch immer hoch frequentiert, müssen sich aber ob mangelnder Bevorzugung den Launen des Berufsverkehrs klaglos unterordnen. Da die Zahl der Taxis und der Neuzulassungen von Privat-Pkws trotz Limitierung stetig steigt, kommt der Verkehr in seinen Hochzeiten regelmäßig zum Erliegen. Mit der Zunahme von Kraftfahrzeugen ist selbst das monströse Geflecht an Hochstraßen überfordert, das ebenfalls innerhalb der letzten fünfzehn Jahre gebaut wurde.
Am kontinuierlichsten wird das Tempo der Stadt auf dem Fahrrad erfahrbar. Statistiken mögen belegen, dass das Fahrrad zumindest für zentrumsnahe Wege in Großstädten immer das schnellste Fortbewegungsmittel darstellt. Tatsächlich ist das Tempo in Shanghai aber vergleichsweise niedrig. Passanten gehen langsam, zieht man den Umstand in Betracht, dass bei wachsender Größe und Bevölkerungsdichte die Schrittgeschwindigkeit eigentlich steigen müsste.
Das Fahrrad, genauer gesagt: das Zweirad, denn die Binnendifferenzierung ist groß, taugt wie die Magnetschwebebahn zum Symbol für Shanghais Entwicklung. Mit dem Unterschied, dass es nicht schon da ist, sondern immer noch. Es ist, da es mithalten kann mit der Verkehrsgeschwindigkeit der Stadt, nicht obsolet geworden.
Die straßenbreite Spur, die in Shanghai anders als den Bussen vielerorts Pedaleuren und Elektro-Mopedfahrern zur Verfügung steht, ist nicht etwa Ausdruck besonderer Wertschätzung, sondern Zeichen der Eindämmung, wozu auch die Sperrung von zahlreichen Straßen für den Zweiradverkehr gerechnet werden muss. In früheren Tagen waren Strecken wie die zum alten Flughafen in Hongqiao versperrt von einem riesenhaften Pulk aus Fahrradfahrern, der eine zügigere Fortbewegung schlicht unmöglich machte. Diese Erfahrung ist ansatzweise heute noch möglich. Fahrradfahren in der flachen Stadt Shanghai bedeutet vor allem das Mitsuppen in einer Masse, es erfordert - nicht zuletzt wegen der immer noch eher freien Auffassung von Verkehrsregeln - Gleichmut. An Ampeln sammelt sich das Feld der Fahrer, das sich ähnlich wie bei der Formel 1 in imaginären, breiten Startreihen aufstellt. Die Entfaltung von individueller Geschwindigkeit wird von der schieren Zahl an Konkurrenz verhindert. Nur an den wenigen Brücken, die mit Anstieg und Abfahrt verbunden sind, reißt das Peloton auseinander. Die Elektro-Mopedfahrer, deren limitierte Geschwindigkeit man auf ebener Strecke auch auf dem Fahrrad erreichen kann, ziehen vornweg, die Fahrradfahrer gehen aus dem Sattel oder steigen ab. Bewunderung nötigt das Fahrverhalten von Lenkern überladener Güterrikschas ab, die den Eindruck erwecken, als würden sie laufen: Im Stehen treten sie konstant und geduldig unter Einsatz ihres gesamten Körpergewichts langsam voran, um zu vermeiden, dass ihr Gefährts zum Stillstand kommt; hier und da unterstützt von Anschüben passierender Mopedfahrer. Dieser Kampf am Nullpunkt der Bewegung ist das Gestern des Verkehrs, das Gegenstück zu den 430 Stundenkilometern des Transrapids. Noch gibt es in Shanghai beides.
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