Am Rand des Lächelns

Kaffeefahrt Höher hinaus kann man nicht mehr kommen: Auf Tour durch China mit Berliner Schriftstellern

Im vierten Band der belgischen Comicserie Tim und Struppi reist der "berühmte Reporter", als der Tim überall empfangen wird, obwohl man ihn eigentlich nie bei der journalistischen Arbeit sieht, mit seinem Hund Struppi nach China. Das Abenteuer spielt Mitte der dreißiger Jahre: Shanghai, das in internationale Konzessionen aufgeteilt ist, wird als Schauplatz westlicher Dekadenz dargestellt mit Opiumhöhlen, Geschäftemachern, die gleichzeitig Agenten sind, und Agenten, die sich als Geschäftemacher tarnen. Die japanische Besatzung, die mit dem Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg 1937 Einzug halten wird, ist vorgezeichnet. Und Naturkatastrophen gehören ebenfalls zum Bild, das sich dem Fremden von China bietet; kein Erdbeben, sondern eine Überschwemmung hat die Bahnstrecke zwischen Shanghai und Hukou zerstört.

Das muss man wissen, wenn man Jochen Schmidt verstehen will. Jochen Schmidt, ein Berliner Schriftsteller, steht im Frühjahr 2008 im Goethe-Institut von Shanghai - das wegen der Buchstabenstrenge deutsch-chinesischer Kulturabkommen nicht Goethe-Institut heißen darf und deshalb griffig als "Abteilung Kultur und Bildung beim Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Shanghai" firmiert - und auf die Frage, welche Vorstellungen er von China gehabt habe, antwortet Schmidt, dass sein Chinabild vor allem von Tim und Struppi geprägt worden sei. Das stimmt und ist natürlich auch ein Witz, denn das China von Tim und Struppi, wo Shanghai Schanghai geschrieben wird und Nanjing Nanking, hat nicht mehr viel zu tun mit dem China, das man heute im Fernsehen sieht und von dem man in der Zeitung liest, was schon an den wechselnden Moden der Umschreibung erkennbar ist. Genauso hat sich allerdings das Bild vom deutschen Schriftsteller gewandelt, dem die chinesischen Germanistikstudenten, die das bevorzugte Publikum bei den Lesungen in Nanjing, Hangzhou, Shanghai und Beijing bilden, etwa in Gestalt von Jochen Schmidt begegnen.

Bei Germanistik denkt man, in China vielleicht noch ein wenig mehr als hierzulande, an Goethe, Schiller, Brecht, vielleicht noch Lenz und Grass, sicher aber nicht an Volker Strübing, Dan Richter oder eben Jochen Schmidt. Strübing, Richter und Schmidt sind Autoren der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten". Die Berliner Lesebühne ist eine Einrichtung, für die sich die Feuilletons als selbst empfundene Pulsmesser des Zeitgeists vor knapp zehn Jahren interessiert haben. Damals war es neu und ungewöhnlich, dass allwöchentlich eine Gruppe von Schriftstellern, die keiner kannte, Texte las vor einem Publikum, das kaum anders aussah als sie selbst. Die Lesungen fanden in feuchten Bars oder abgewetzten Kneipen statt, auf der Bühne wie im Publikum wurde Bier getrunken und geraucht, und in den Pausen legte ein DJ Musik auf. Die Lesebühne gibt es immer noch, zu den "Enthusiasten" kommen jede Woche 200 bis 300 Zuhörer, und der einzige Unterschied ist vielleicht, dass schon seit einiger Zeit nicht mehr geraucht wird. So heterogen die Texte sind, die an den Lesebühnen vorgetragen werden, es eint sie alle das Bewusstsein, dass Literatur nicht etwas ist, das weihevoll sich da ereignet, wo Günter Grass pfeifehaltend in die Steidl-Ausgaben seiner gesammelten Werke schaut oder Durs Grünbein aus einer Kladde liest, auf der "Unveröffentlichtes" steht. Die Literatur der Lesebühnen besteht aus ausgedruckten Word-Dokumenten und soll eher Gebrauchsgegenstand sein als haltbar bis in alle Ewigkeit. Die Texte handeln von Alltag und Kindheit und sind von einer Ironie, die von der Überzeugung kündet, nichts im Leben sei so schwer, dass man nicht auch darüber lachen könnte. Mein Leben nach dem Tode heißt ein Text, den Volker Strübing in China liest und der vom Horror eines Fallschirmsprungs erzählt, den Strübing zum 30. Geburtstag geschenkt bekommen hat. Dan Richter zählt derweil die Top Ten der gefährlichsten Feinde des Radfahrers auf, die in der Pointe enden, dass der schlimmste aller Feinde des Radfahrers der Radfahrer ist. Die Hölle, das sind immer die anderen - Thomas Mann hätte das nicht anders gesehen. Nur geht es in dieser Hölle heiter zu. Und also auch in China, wohin die Lesebühnenautoren auf Anregung Rupprecht Mayers gereist sind, der als Übersetzer im Shanghaier Generalkonsulat arbeitet, selber Texte schreibt und zuvor, während zweier Arbeitsjahre in Berlin mit den "Enthusiasten" in Kontakt gekommen ist.

Bei der Begegnung sich fremder Kulturen entstehen Missverständnisse. Und dann ist die Frage, wie man mit diesen Missverständnissen umgeht - ob daraus Affronts und diplomatische Krisen werden oder ob aus dem Nebeneinander der Weltbetrachtungen und Sozialisationen das wird, was in der Sprache der Goethe-Institute "interkultureller Dialog" heißt. Etwas, das gegenseitiges Verständnis erst eröffnet. Bei der Schriftstellerreise sind die Missverständnisse eindeutig zweiter Natur.

Das erste Missverständnis ist der Humor. Strübing, Richter und Schmidt haben offensichtlich keine Lust, sich diesbezüglich anders als zu Hause zu benehmen, wo sie auf der Bühne ihren Spaß haben und voraussetzen, dass sich das Publikum dabei amüsiert. In Nanjing fragt eine Studentin, was die "Chaussee der Enthusiasten" denn auszeichne. Dan Richter: "Dass wir zunächst einmal die schönsten Schriftsteller Berlins sind." Kurze Pause, dann Lachen, weil auch dem, der noch nie einen Berliner Schriftsteller gesehen hat, Zweifel kommen müssen, dass dieser Satz allein der Wahrheit verpflichtet ist. In Shanghai taucht die obligatorische Frage auf, ob die "Enthusiasten" auch "ernste Texte" schreiben würden. Der scheint ein Verständnis von Literatur zu Grunde zu liegen, demzufolge von den großen, ernsten Themen, dem Krieg, dem Tod, der Politik, nur groß und ernsthaft zu schreiben ist. Und dementsprechend leicht ist sie zu kontern: Da lacht mal jemand über Deutsche, die bekanntlich als humorlos gelten, und wieder beschweren sich die Leute.

In Hangzhou ist die Lage kniffliger. Im Auditorium der Universität, das aussieht wie die moderne Variante eines Tagungssaals für Deputierte eines Provinzparlaments, herrscht während der Lesung zähe Stille. Selbst als Jochen Schmidt seinen Text Meine Ängstlichkeit liest, eine Kompilation all jener Kinderschicksalsgeschichten, mit denen Erwachsene vor sämtlichen Gefahren des Lebens warnen. Gewöhnlich wird nach jedem Satz gelacht, in Hangzhou gibt es keine Reaktion. Man fragt sich, ob Eltern in China ihre Kinder doch anders oder gar nicht warnen, und ob das, was Berliner Mittdreißiger lustig finden, chinesische Zwanzigjährige langweilt. Aber nach Ende der Lesung werden Fragen gestellt, und diese Fragen zeugen von kühlem Verständnis. Sie analysieren in faszinierender Humorlosigkeit den Humor der Lesebühnenautoren. Ein Student zieht Parallelen zum Absurden bei dem chinesischen Nationaldichter Lu Xun, eine Studentin wundert sich, dass die Geschichten doch eigentlich gar nicht komisch, sondern tieftraurig seien. Ein interkultureller Rückkopplungseffekt, der bloßlegt, was der Humor in den Texten tatsächlich nur bemäntelt: die Verzweiflung, die Einsamkeit, die Angst vor dem Tod.

Das zweite Missverständnis ist der Tourismus. Unter Begleitprogramm verstehen die jungen chinesischen Angestellten in der Abteilung Kultur und Bildung Sehenswürdigkeiten. Und unter Sehenswürdigkeiten die Orte, zu denen die Reisegruppen strömen. In der Stadt Shanghai heißt das dann: Yu-Garten, eines der wenigen, wenn auch restaurierten Relikte der Ming-Dynastie. Es braucht nicht einmal die Begegnung mit einer deutschen Reisegruppe samt dem Schwaben, mit dem sich Dan Richter auf dem Hinflug um das Gepäckfach gestritten hatte, damit die Autoren wissen, dass sie eigentlich etwas ganz anderes sehen wollen als Kaisergräber und auf historisch getrimmte Viertel. Sie interessieren sich für den Monumentalismus der Mao-Jahre und der Gegenwart, die Hochstraßen und Yangtse-Brücken, überhaupt: die chinesischen Städte mit dem Heer an Fahrradfahrern, Männern, die ihre Ziervögel in Käfigen ausführen wie Hunde, und Kindern, die immer noch Halstücher tragen. Unter Tourismus verstehen die Berliner Autoren, durch die Stadt zu gehen oder zu fahren, um zu schauen. Oder einfach nur im Café zu sitzen. Wozu den jungen chinesischen Angestellten der Abteilung Kultur und Bildung das Stichwort "Starbucks" einfällt, das bei Alteuropäern, die Eigenheiten, Seitenwege und Randständiges bevorzugen, naturgemäß ein Reizwort ist. Aber in diesem Fall liegen die jungen Chinesen richtig: Der Kaffee gehört traditionell nicht zu den chinesischen Eigenheiten. Man kann ihn nur bei Starbucks bekommen.

Alles Politische, also das, was von Ferne zuerst von China gesehen wird, Tibet, Doping, Menschenrechte, sorgt nicht für Missverständnisse. In diesem Punkt sehen sich die Autoren nicht als Botschafter, die für Völkerverständigung sorgen müssten, sie würden eher fragen, zuhören. Oder machen Witze. Als in Dan Richters Text über die Feinde des Radfahrers das Wort "Sozialdemokraten" vorkommt, will er es durch "Sozialisten" ersetzen, aber nur weil im deutschen Fernsehen allein von der Kommunistischen Partei Chinas geredet wird, heißt das noch nicht, dass die Zuhörer keine Vorstellung von Sozialdemokraten haben. Als Richter später auf die Internetseite der "Enthusiasten" verweist, muss er verkünden, dass diese leider gesperrt sei. Obwohl in den Texten weder das Wort "Fackel" noch "Demokratie", "Olympia" oder "Tibet" auftauche. Gelächter.

Die Fahrt von Berliner Lesebühnenautoren nach China entpuppt sich also Reise in die Normalität einer Lebenswelt, in der sich einiges gleicht. Die giggelnde Schüchternheit der chinesischen Germanistikstudentinnen etwa deckt sich gut mit der mitunter wortkargen Scheue deutscher Schriftsteller. Einiges bleibt sich aber auch fremd. Auf einen Eindruck von Shanghai angesprochen, erklärt Jochen Schmidt, ihm könne alles nicht hoch genug sein, er nehme den rasenden Gigantismus der Stadt wie ein Naturphänomen wahr. Dieser Blick, so nahe liegend er ist aus Sicht der Berliner Traufhöhen, hat etwas von Exotismus. Den findet man schon bei Tim und Struppi, wenn auch in anderer Form.

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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