Rom, Pisa, Venedig, Wien, Salzburg, München, Leipzig, Berlin, Potsdam, Hamburg, Amsterdam, Brüssel, Trier, Luxemburg, Paris. Halb Europa will Die chinesische Delegation in dem gleichnamigen Roman von Luo Lingyuan besichtigen, und das alles in 19 Tagen. Da ist Zeit knapp, und so lässt der erste Disput über die Terminplanung nicht lange auf sich warten. "Wann wird es hier dunkel", fragt der Delegationsleiter Wang Jian, nachdem die Reiseleiterin Song Sanya erklärt hat, dass nach der Ankunft im Hotel (18.15 Uhr) Essen (18.30 Uhr) und Freizeit (danach) auf dem Programm stünden. "Gegen acht, glaube ich", antwortet die Reiseleiterin. "Dann machen wird nach dem Essen noch eine kleine Stadtbesichtigung mit dem Bus", erklärt Wang. Das ginge leider nicht, entschuldigt sich die Reiseleiterin, der Busfahrer habe schon elf Stunden am Steuer gesessen. "Wenn wir im Hotel sind, muss er Feierabend machen." "Bei uns in Ningbo arbeiten wir von morgens um acht bis tief in die Nacht, manchmal sogar bis acht Uhr am nächsten Morgen. Wieso sind elf Stunden Autofahren schon zu viel für einen Deutschen?"
Diese naiv-provozierende Frage führt in das Zentrum des Romans, der an der Oberfläche von kulturellen Unterschieden handelt, womit in den Zeiten der Globalisierung unterschwellig nichts anderes thematisiert wird als die Frage von Standortvorteilen. Oder Nachteilen, je nachdem, von welcher Seite man darauf schaut. In Die chinesische Delegation schaut der Leser durch die Augen der Reiseleiterin Sanya. Die steht mitten auf der Kreuzung, an der die chinesische Schnellstraße auf die europäische Altstadtgasse trifft, und versucht den Verkehr der widerstrebenden Gefühlsströmungen zu regeln. Song Sanya ist zwanzig Jahre in China aufgewachsen und lebt nun fast genauso lange in Berlin, eine Biographie, die an den Lebenslauf der Autorin erinnert. Luo Lingyuan war 26 Jahre alt, als sie 1990 nach Deutschland kam. Vor zwei Jahren hat sie den Erzählungsband Du springst jetzt für meinen Sohn aus dem fünften Stock! veröffentlicht, Die chinesische Delegation ist der erste Roman der auf Deutsch schreibenden Autorin.
Die Reisegruppe bietet einen Ausschnitt der chinesischen Gesellschaft. Befehligt wird sie von Wang, einem alten Politfunktionär, den, wie gegen Ende des Buches zu erfahren ist, durch die Jahre wechselnder politischer Wetterlagen keine ungebrochene Karriere geführt hat. Das hat ihn trotzdem - oder gerade - nicht nachsichtig werden lassen gegenüber Unzulänglichkeiten anderer. Als etwa der ebenfalls ältere kleine Beamte Ai Yang, mit seinem "gekrümmten Rücken" der Prototyp des ewig Gebeutelten, gefundenes Geld einbehalten will, veranstaltet Wang eine Art Tribunal, an dessen Urteil auch Sanyas guter Willen nichts zu ändern vermag.
Von Wangs Seite weicht nie der Unternehmer Gao, was praktisch ist, insofern er anders als der viel reichere Li und der instinktsichere Pan für nahezu alle Auslagen des Kommandanten aufkommt. Diese Form der Bestechung ist nicht als kryptoökonomisches Geschäft zu verstehen, wo für jede Zahlung ein Gefallen in Rechnung gestellt werden kann. Der Gefallen hängt letztlich immer noch vom Wohlmeinen des Parteifunktionärs ab, wie Gao erfahren muss. Die Trennung von Macht und Geld im chinesischen Marktwirtschaftskommunismus zeugt so eine eigene Spielart von Korruption, bei der es viel offensichtlicher, viel natürlicher zugeht als in der diskret hüstelnden Schwarzkontenwelt des Westens. Für die emotionalen Händel während der Reise sind der zudringliche Herr Hai und der einfühlsame Herr Xia zuständig.
Die Fahrt erstreckt sich durch ein Reiseführereuropa, bei dem in Pisa der schiefe Turm bestaunt wird, in Salzburg das Mozarthaus und in Leipzig "Neu-Nazis". Sie richtet sich aber auch nach einem Kompass spezifisch chinesischer Interessen, zu denen das Geburtshaus von Karl Marx in Trier gehört und eine Tagung in Berlin, bei der nach Architekten für künftige Bauprojekte Ausschau gehalten werden soll. Klischeehaft wird das Buch dennoch nie, weil Luo Lingyuan ihrem leichten, unterhaltenden Ton eine unaufdringliche Komik entlockt und ein flottes Tempo unterlegt. Die chinesische Delegation hat etwas von einem Protokoll, das die Ebene des Berichts kaum verlässt. Dabei besteht das größte Verdienst der Autorin darin, die ästhetische Schmucklosigkeit mit politischer Enthaltsamkeit zu verbinden. Song Sanya ist eine Figur auf der Schwelle der Meinungsbildung, durch die hindurch der westliche Leser mit anderen Augen sehen lernen kann.
Wer ob des wenig einfühlsamen Gebarens des Parteisekretärs Wang seine Vorurteile gegenüber chinesischen Funktionären bestätigt sieht, wird peinlich erröten angesichts der Schilderung des Architekturprofessors Eisenach. Um dessen subtile Unhöflichkeit provinziell zu finden, muss man nichts über die oft zitierten, komplexen chinesischen Umgangsformen wissen. Das Interesse an seiner Arbeit nimmt der deutsche Experte unbescheiden zum Freibrief, kein Interesse an seinen Gesprächspartnern zu zeigen, das über eine Auftragsvergabe an ihn hinausginge. In solchen kühlen Miniaturen zeigt sich ein naiv-eitler Eurozentrismus, der voraussetzungslos davon ausgeht, dass die Welt nach seiner Pfeife tanzt. Ein anderes Beispiel für die Ausgewogenheit der Darstellung beider Seiten ist der Baustellenkoordinator Norman Bisky, der die Delegation wie den Leser beeindruckt durch den hohen Sicherheitsstandard auf deutschen Baustellen, von Schwarzarbeit aber lieber nicht reden will.
Darüber hinaus ist Die chinesische Delegation die Geschichte einer Frau in stummer Revolte. In manchen Episoden - über die sexuellen Handgreiflichkeiten Hais, das kompromisslose Regime Wangs - hallt das Echo nüchterner Grausamkeit aus Luos Erzählungsband nach. Auch wo Empörung herunterschluckt wird, zeigt sich die stille Kraft der Relativierung. Dass sich Sanya nicht mit allem Frust an ihren deutschen Freund wendet und für Herrn Xia mehr als Sympathie empfindet, zeugt von der Zerrissenheit der Protagonistin. So führt noch das Private vor, wie die gegenüber China häufig beschworenen westlichen Werte an Strahlkraft verlieren, wenn man sich die Mühe macht, sie von China aus zu betrachten.
Luo Lingyuan: Die chinesische Delegation, Roman, dtv, München 2007, 258 S., 14,50 EUR
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