Scripted Reality ist ein Vorwurf, den man dem Privatfernsehen macht. Dort wird, etwa in Dokusoaps, Laientheater gegeben, Kleindarsteller sagen Text auf. Denn Kleindarsteller kosten nicht viel, und das wahre Leben als vorgefertigter, ausgedachter Text lässt sich leichter in Richtung Sensation und exploitation steuern, als das bei tatsächlichen Lebensumständen der Fall wäre.
Das ist im Dokumentarfilm zumeist anders, aber nicht unbedingt deshalb, weil der Dokumentarfilm auch mal ins Kino darf. Die entscheidende Frage lautet, wie und zu welchem Zwecke inszeniert wird, und sie wird anregend gestellt von zwei Filmen, die fast zeitgleich ins Kino kommen: Schönheit von Carolin Schmitz (diese Woche) und Beziehungsweisen von Calle Overweg (11. Oktober).
Letzterer nennt sich selbst „gespielter Dokumentarfilm“, weil hier drei Schauspielerpärchen mit jeweils echten Psychotherapeuten Sitzungen abhalten. Zwischendurch sieht man kleinere Spielzenen, jeder Illusion von „Echtheit“ wird aber von Beginn an vorgebeugt durch die Sichtbarmachung der Mittel. Gedreht wurde in einem theaterhaften Studio, in dem Autos oder Räume nur markiert werden, durch Geräusche etwa. Außerdem interveniert Overweg selbst, befragt die Therapeuten nach ihren Wahrnehmungen: „Es gibt Paare, die sind so hochstrittig, da krieg ich kein Bein rein.“
Das Spiel mit dem Dokumentarischen, das Beziehungsweisen betreibt, leuchtet ein: Psychotherapie ist, so konkret der Leidensdruck sein mag, der den Einzelnen dazu motiviert, noch keine gesellschaftliche Fragestellung. Indem Overweg nun das Persönliche an den Geschichten ausstreicht, weil er sie Schauspieler sprechen lässt, summieren sich die drei Episoden (ein Paar in der Schwangerschaft, eines mit zwei kleinen Kindern, ein altes) zu einem Essay. Der handelt schließlich weniger von Therapie, sondern vielmehr von der Liebe – die, wie eine Therapeutin sagt, in den seltensten Fällen das Bindemittel von Beziehung ist (zumeist: „Schulden und gemeinsame Kinder“), und die er leichthändig, ja vergnügt sucht in den eigenartigen, arbeitsintensiven Erzählsituationen, die Therapie hervorbringt.
Schönheit ist von anderer Gestimmtheit. Statt die Form aufzubrechen, wird hier verdichtet. An eine fulminante Eingangsszene, in der zwei Frauen in irrem Redefluss über eine Autoausstellung laufen – und dabei die Vorzüge von Marken und die Vorstellungen von Geschlechterfragen diskutieren –, schließen sich kommentarlose Selbstpräsentationen der namenlosen Protagonisten an. Carolin Schmitz‘ Film zeigt eine totalrationalisierte Welt, in der ein wohlständiger Hedonismus permanent mit allen Mitteln an der eigenen, körperlichen Optimierung arbeitet.
Bei der Premiere auf dem Dokfilmfest Leipzig im vergangenen Jahr ist Schönheit vorgeworfen worden, seine Protagonisten vorzuführen. Dabei verlängert der Film kühl lediglich die Logik der neurotischen Selbstdarstellung in seine Erzählung, wenn er die Leute vor der Kamera sich mit drängenden, dichten Erklärungen präsentieren lässt. Schönheit zeigt eine Welt, die bei Günther Jauch nicht vorkommt und daher im schichtenbewussten Akademiker Verachtung hervorruft, wie das Privatfernsehen sie lehrt. Dabei ist Schönheit, wie das vielleicht eindrücklichste Zitat weiß, ein Film über Sucht: Wer einmal mit dem Verbessern angefangen hat, hört nicht wieder auf.
Regisseur Calle Overweg im Interview über "Beziehungsweisen"
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