Europa ist eine Aufzählung. Wo immer es sich als gemeinsame Idee seiner Teile präsentieren soll, zieht es einen Rattenschwanz an Attributen hinter sich her. Und gerade weil man so wenig eins ist über die "Idee", trifft man Europa am genauesten, wenn möglichst alle Einzelteile Erwähnung finden. Außerdem muss dann niemand das Gefühl haben, er käme zu kurz. Beim Europa-Preis für das Theater, der zum 12. Mal in Thessaloniki verliehen wurde, konnte die kontinentale Fülle nur begrenzt zum Ausdruck kommen. Es werden nämlich nur zwei Preise vergeben und nur die derart Geehrten sind eingeladen, an wenigen Tagen Ausschnitte ihres Schaffens zu zeigen und Gegenstand von Diskussionen zu bilden. Die Aufzählung ist also kurz und unverbunden; das Bild Europas, das sich dadurch entwerfen lässt, in all seiner Widerborstigkeit aber durchaus aufschlussreich.
Das alte Europa trug das Gesicht Patrice Chéreaus, dem der mit 60.000 Euro Hauptpreis dotierte zuerkannt worden war, und wer in diesem Gesicht lesen konnte, musste zu dem Schluss kommen, dass das europäische Theater eine sehr ernste, sehr gewichtige und sehr innerliche Angelegenheit ist. Zweifellos ist Chéreau ein würdiger Preisträger und ein Grenzgänger überdies: Er hat in Italien bei Giorgio Strehler gearbeitet, in Frankreich die Gegenwartsdramatik von Bernard-Marie Koltés auf die Bühne gebracht, in England Filme gedreht, und den Deutschen einen Ring in Bayreuth inszeniert, von dem sie immer noch reden, obwohl er über ein Vierteljahrhundert alt ist. Das wurde in allen Einzelheiten und insgesamt über drei lange Tage erörtert in einem Symposium, das der Pariser Theaterprofessor Georges Banu organisierte hatte. Vielleicht war es schon immer so, vielleicht auch hat sich Banu erst im Laufe seiner jahrelangen Beschäftigung mit dem Schaffen und mehr noch dem Leben Chéreaus seinem Forschungsobjekt so angenähert, dass sich über das geistige Abenteuer, das Wissenschaft sein könnte, der Mehltau pflichtschuldiger Lobhudelei in möglichst flockigen Phrasen gelegt hat. Was in gewisser Weise zu den Darbietungen passte, die Chéreau in Thessaloniki verantwortet hat: zwei Lesungen mit ihm als Lesendem. Das ist irritierend, insofern er Verdienste, Talente und Qualitäten hat, das Lesen ganz offensichtlich aber nicht dazugehört. Mit der Schauspielerin Dominique Blanc trug Chereau La Douleur von Marguerite Duras vor - eine Stunde-Null-Meditation und damit auch eine Ursprungserzählung jenes Europas, das sich hier friedlich in Theaterpreisen zu manifestieren suchte -, und hielt sich dabei die gesamte Zeit an Gesten gravitätischer Luftmalerei fest, wie sie jedem Schüler zuerst einfallen würden, von dem der Lehrer nun aber ein bisschen Betonung im zu rezitierenden Gedicht verlangt. Wo der Duras-Text unaufdringlich in seiner Sprache kreist, war Chéreau vor allem damit beschäftigt, von der Kunst im Allgemeinen und sich selbst im Besonderen ergriffen zu sein. Ein Eindruck seines Lebenswerks, dem der Preis schließlich gilt, ließ sich so schwer gewinnen.
In der Nachwuchskategorie, die in der deutschen Übersetzung etwas sperrig "Preis für neue Theaterwirklichkeiten" heißt, wurden der Pole Krzysztof Warlikowski und das deutsch-schweizerische Autorenregisseurteam Rimini Protokoll (Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel) ausgezeichnet. Was dann den eben europäischen Kontrast ergibt, dass die handwerklich interessante und ob seiner offensiven Sexualität gesellschaftlich relevante Inszenierung von Sarah Kanes Gesäubert durch Warlikowski gemessen am ästhetischen Neuland, das Rimini Protokoll dem Theater durch die Arbeit mit so genannten Experten des Alltags erschlossen haben, für eine "neue Theaterwirklichkeit" doch relativ konventionell anmutete. Dafür spricht auch die unterschiedliche Ausrichtung der Diskussionsrunden. Während die Warlikowski-Auslegung der Banuisierung wohl nicht mehr zu entreißen ist und also auf vollen Podien angeleitet von dem umtriebigen Pariser Professor Anekdoten und andere Erweckungserzählungen von Mitstreitern produzierte, machten Rimini Protokoll ihre Gesprächsrunde selbst zum szenischen Ereignis. Vier "Experten" aus vier verschiedenen Inszenierungen gaben in kurzen Interviews mit Theaterkennern Auskunft über die Arbeit mit Haug, Kaegi und Wetzel, und bei aller Verschiedenheit zwischen einem Berliner Intellektuellen, einer Schweizer Buchhalterin, einem Luzerner Schüler und einem belgischen Flugzeugnarr stellte sich der erfrischende Eindruck ein, dass Theater, wenn man es selber spielt, auch glücklich machen kann.
Eher unglücklich über die eigene Situation zumindest auf einer Pressekonferenz in der zum Radioraum umfunktionierten Garderobe des Vassiliko-Theaters von Thessaloniki wirkten Natalja Koljada, Nikolai Khalezin und Vladimir Scherban. Die drei sind: Gründerin, Autor und Regisseur des Belarus Free Theatre, das sich auf Empfehlung prominenter Fürsprecher wie Harold Pinter, Vaclav Havel und Tom Stoppard kurzerhand unter der Rubrik "Besondere Erwähnung" bei der Fachveranstaltung präsentieren konnte und zu deren heimlichem Liebling avancierte. Was sich den Inszenierungen verdankte, die von ungeahnter Leichtigkeit und verführerischer Modernität gerade nicht als Sprachrohr einer politischen Botschaft dienten, sondern eine künstlerische Eigenständigkeit behaupteten. Als wären Khalezin und Scherban Austauschstudenten am Gießener Institut für angewandte Theaterwissenschaft gewesen, präsentierten sie Formen postdramatischen Theaters. In Generation Jeans bot Khalezin monologisch und zu entspannten DJ-Beats eine Jugenderzählung dar, die abgeklärter ist als jede Propaganda und sich von anderen, etwa (ost)deutschen Erfahrungen wie Sonnenallee wohl nur darin unterscheidet, dass am Ende des Ostens nicht der Westen steht, sondern die neue Repression. In Zone of Silence, als die das Belarus Free Theatre das eigene Land innerhalb Europas begreift, thematisierten die Darsteller ihr eigenes Leben, dokumentierten die zerstörten Biographien von Bekannten oder performten Statistiken über das eigene Land - mit Humor: "Am 20.10.2004 migrierten 242 weißrussische Kühe nach Polen."
Nicht weniger denkwürdig geriet die Podiumsdiskussion mit dem Belarus Free Theatre. Die Globalisierung des Denkens ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass ein Großteil der beisitzenden Herren sich angesichts der frostigen weißrussischen Verhältnisse nicht in der Sonne westlicher Freiheit sonnte, sondern Weißrussland als Auftrag zur Selbstreflektion begriff. Die Frage, ob man aus Weißrussland ausreisen kann, ist einfacher zu beantworten als die, ob man nach Schengen-Europa einreisen kann. Zwischenzeitlich schienen die Verhältnisse fast verkehrt: Gefragt nach seiner künstlerischen Freiheit erklärte Khalezin, dass jemand der etwa hier in Griechenland ein kritisches Thema auf die Bühne brächte, bei der nächsten Förderrunde womöglich leer ausgeht, was einem in Weißrussland nicht passieren könne, weil es da überhaupt kein Geld gibt. So weit muss es nicht immer gehen: Rimini Protokoll machte die Erfahrung, dass die Inszenierung Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, die sie ursprünglich in Thessaloniki zeigen wollten, politisch nicht gewollt war.
Kein Geld ist das peinliche Stichwort für den letzten Akt, den man etwas drastischer auch Skandal nennen könnte. Den "Preis für neue Theaterwirklichkeiten" enthielt neben Warlikowski und Rimini Protokoll nämlich auch die Berliner Choreografin Sasha Waltz, die aber aus gesundheitlichen Gründen nicht anreisen konnte und deshalb wie Peter Zadek im letzten Jahr lernen musste, dass es Geld nur für Anwesenheit gibt. Daraufhin machte Rimini Protokoll auf der Zeremonie den naheliegenden Vorschlag, die derart vakanten 7.000 Euro dem Belarus Free Theatre zu überreichen. Eine schönere Vorlage für die alten Männer der Politik und Verbandsbürokratie hätte es nicht geben können, ihre Sonntagsreden von Freiheit, Verständigung und Vielfalt in einer Geste der Großzügigkeit Symbol werden zu lassen. Stattdessen: keine Reaktion. Bis auf Ian Herbert, Chef der internationalen Kritikervereinigung, der es witzig fand, Rimini Protokoll vorzuschlagen, doch das eigene Preisgeld zu spenden.
Was soll man sagen? Europa ist ein Rattenschwanz. Aus institutioneller Bürokratie und nationalen Eitelkeiten.
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