Besuch

Linksbündig Angela Merkel überrascht uns damit, was möglich ist

Politik, so wie sie in den Fernsehnachrichten ankommt, besteht aus Zahlen und Personen. Sie muss sich kümmern um Arbeitslosenzahlen, Wachstumsraten und Emissionswerte. Den Zuschauer vom Fernsehapparat kümmert das aber, solange er Arbeit hat und keine Chemiefabrik besitzt, wenig. So entsteht der Eindruck, dass das, was die da oben machen mit unsereinem hier unten vor der Glotze nichts zu tun hat.

Weil niedrige Arbeitslosenzahlen, hohe Wachstumsraten und gesunde Emissionswerte allein nicht glücklich machen, kann man Politik auch als etwas begreifen, dass für die Organisation des gesellschaftlichen Miteinanders zuständig ist. Solche Werte, die gesellschaftlichen soft skills, werden beim Umschalten in den Reichstag eher selten genannt. Politiker treten als Schmierstoffhändler des Ethischen nur dann in Erscheinung, wenn ein Skandal offenbar macht, dass sie selbst oder ein Dritter sich nicht an die ungeschriebenen Verträge der Formen des menschlichen Zusammenlebens gehalten haben. In unserer Gesellschaft ist Ethik etwas, das sich irgendwie von selbst versteht, ein einziger Skiflug, bei dem hier und da noch mal korrigiert wird, die Haltungsnoten sonst aber stimmen.

In China etwa ist das anders. Geschichtlich und kulturell bedingt steht es um die Umgangsformen, wie sie von den westlichen Demokratien unausgesprochen vorausgesetzt werden, deutlich schlechter als um die Wachstumsraten. Die Regierung, die sich gegen die Möglichkeit eines chinesischen Weges auf diesem Feld entschieden hat, fährt deshalb breit angelegte Kampagnen, um den Leuten Benimm beizubringen. In den Metro-Stationen hängen "Nicht spucken"-Schilder und auf den Flachbildschirmen in denen Zügen laufen Trickfilme, die das Milliardenvolk darauf vorbereiten sollen, wie man sich bei den bevorstehenden Olympischen Spielen in Peking benimmt. Erst jüngst wurde von höchster Stelle flächendeckend darüber informiert, dass eine Fußgängerampel nicht zum Vergnügen rot leuchtet. Und der Stolz des Landes, der NBA-Basketball-Star Yao Ming, erklärt in Zeitungsinterviews, wie nett das Miteinander sein kann, wenn man auch mal darauf achtet, dem Hintermann die Tür nicht vor der Nase zuzuschlagen.

Nur dass es bei uns unvorstellbar wäre, dass Michael Schumacher erzählen würde, das Tempolimit in der Schweiz mache das Autofahren so stressfrei, heißt andererseits aber nicht, dass kein Bedarf an lebenspraktischen Verhaltenslehren herrscht. Da die Politik sich auf ihr Kerngeschäft konzentriert, bleibt dieses Segment selbst ernannten Volkserziehern überlassen und Ratgebersendungen im dritten Programm, in denen erklärt wird, wie man eine Serviette faltet, ohne sich vor dem Nachbar zu blamieren.

So ist es bemerkenswert, dass Angela Merkel ihre Neujahrsansprache mit einem sehr alltagsnahen Appell für die Verschönerung des gemeinsamen Miteinanders geschlossen hat. Ein wenig ist hierfür womöglich auch Horst Köhler verantwortlich, der - als Bundespräsident eigentlich aus der Tagespolitik outgesourcet für den gesellschaftlichen Kitt sorgen soll - zuletzt jedoch damit beschäftigt war, sich in die Tagespolitik einzumischen. Mit dem bereits letztjährig ausgegebenen, etwas drögen Motto "Überraschen wir uns damit, was möglich ist" verband die Kanzlerin nicht den Ich-AG-Gründergeist, der hinter im Grunde zutiefst depressiven Kampagnen wie dem Selbstermannungsprogramm "Land der Ideen" steckt. Sie forderte vielmehr dazu auf, im kleinen anzufangen mit der Veränderung, "zum Beispiel mit einem Gespräch, einem ausgedehnten Spaziergang, einem Besuch oder indem wir mal das Handy ganz bewusst ausschalten, auch wenn dies manchem, wie zum Beispiel auch mir, zunächst einmal ungewohnt erscheinen mag."

Besonders der Hinweis auf die wohltuende Wirkung eines "Besuchs" verdient Beachtung, gerade weil er nicht - wie bei depravierten Ideologen des Bürgerlichen, die sich die drohende eigene Verwahrlosung mit Naturbetrachtung und Museumsvisiten schönreden wollen - mit einem pädagogisch wertvollen Bildungsauftrag versehen ist, sondern so vage bleibt, dass man sich darunter alles vorstellen kann. So muss man Angela Merkel lassen, dass sie in ihrer undurchschaubaren Eigenschaftslosigkeit auch das Fernsehen pragmatisch nimmt. Vor dem Bildschirm sitzen schließlich nie Millionen, sondern immer nur einer oder zwei - und die wollen alle zugleich angesprochen sein. So rücken wir uns das Feinripp-Unterhemd zurecht und stoßen mit der Kanzlerin auf 2007 an. Peace, Angela.


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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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