Bilder von elf Monaten

Medientagebuch Irgendwas passiert immer: Voreilige Fernseh-Rückblicke und zu lange Jahre

Die Freilassung von Susanne Osthoff und ihrem Fahrer am letzten Sonntag ereignete sich so unerwartet und emotionslos, wie die ganze Geschichte ihrer Entführung gewesen ist. Es gab den Appell von Osthoffs Familie und ein paar Mahnwachen, aber die große Teilnahme der Bevölkerung, aus der künftige Zweiteiler im Privatfernsehen Populärmythen stricken, blieb aus. Keine Fußballspieler, die mit dem Schriftzug "Freiheit für Susanne" auf der Brust vor den Ball traten, keine großen Politikerworte, kein kollektives Aufatmen über die Freilassung, die mitfühlend-wartende Deutsche erlöst hätte.

So ist das Schicksal von Susanne Osthoff nur äußerlich eine Weihnachtsgeschichte. Tatsächlich handelt es sich um einen Fall von vorauseilendem Pragmatismus, von dem man nach glücklichem Ausgang sagen kann, dass die stille Diplomatie im Hintergrund sowieso mehr bezweckt als alle mediale Aufwallung. Hinzu mag kommen, dass wir Deutschen dem Pathos naturgemäß ferner stehen als Italiener oder Franzosen. Außerdem war die deutsche Archäologin eine Unbekannte im Gegensatz zu den zuvor entführten Journalistinnen, deren prominente Gesichter und Reportagen eine Emotionalisierung der Verschleppungen möglich machte. Passend zur ganzen Geschichte hat sich die freigewordene Deutsche gegen eine sofortige Rückkehr in die Heimat entschieden, wo Angela Merkel und Horst Köhler sie am Rollfeld hätten empfangen können.

Vor allem zeigt die unterkühlte Kenntnisnahme des Falls Osthoff, dass der hiesige Fernsehzuschauer und Zeitungsleser der Konflikte im Irak müde ist. Ein weiteres Jahr ist verstrichen, ohne dass sich an der Berichterstattungslage etwas geändert hätte. Die Sprengsätze, Attentate und Entführungen sind ohne Zahl, und wenn die Fernsehnachrichten jetzt noch ein paar Anschläge pflichtschuldig in den Nachrichtenblock aufnehmen, dann äußert sich darin allenfalls das Nachbeben eines schlechten Gewissens, die Hilfstruppen einer national gesteigerten Aufmerksamkeit nicht sofort wieder abziehen zu können. Die mediale Lehre aber lautet: Mit den Mitteln der Aktualität ist dem, was im Irak tagtäglich passiert, nicht beizukommen.

Mit den Mitteln der Historisierung aber auch nicht, und dieser Umstand ist schon ein wenig verblüffend. Die Jahresrückblick-Sendungen wie Menschen 2005 (ZDF) oder 2005! Menschen, Bilder, Emotionen (RTL) haben ihre eigene Zeitrechnung etabliert, derzufolge das, was großspurig Jahr heißt, die zehneinhalb oder elf Monate meint, die vor dem Redaktionsschluss liegen, der eine Ausstrahlung der Show Anfang Dezember gewährleistet. Eigentlich können Johannes B. Kerner und Günther Jauch also froh sein, dass Susanne Osthoff die Anonymität der Erholung einer medial triumphalen Rückkehr auf die Talkshow-Couch vorzieht. Vermutlich wäre es ihnen aber auch egal, weil der Brei, der da in der Weihnachtszeit ausgegeben wird sich von dem Eintopf, den es normalerweise gibt, nur darin unterscheidet, dass er noch mehr gestreckt ist. Die Bestückung von zwei statt einer Stunde Programm folgt einem alten Hausfrauen-Trick: Zehn sind geladen, zwölf sind gekommen, kipp´ Wasser dazu, heiß´ alle willkommen.

Gerade der ZDF-Multifunktionstisch Kerner - der sich nicht mehr nur vor jedem beliebigen Schicksal aufklappen lässt oder in allen Fußballstadien herum steht, sondern auch als Anrichte in Kochsendungen fungiert beziehungsweise als Beistelltisch in knallharten Politrunden nicht auffällt - zeigt, dass Diversifizierung der beste Weg zur Unabhängigkeit von der Welt ist. Bei Kerner können so viele Binnenresümees 2005 gezogen werden, dass die Wirklichkeit überflüssig wird. Man redet einfach einmal mehr mit Franz Beckenbauer und Jürgen Klopp oder den vier lustigen Kochmützen vom Freitag, und fertig ist die Best-Of-Show. Von realem Grauen ist allein die Tatsache, was da alles noch besprochen werden soll. Angesichts der selbstreferentiellen Langeweile wünscht man sich dringend dorthin, wo Susanne Osthoff gerade weilt.

Betrüblich beim Blick auf die Jahresrückblicke stimmt das Los der ZDF-Album-Reihe. Die Aufgabe der Sendung, die noch immer sachlich Bilder eines Jahres untertitelt ist, war Verlangsamung. Im Kontrast zum Takt der fast stündlichen heute-Sendung leistete sich das Album den Luxus des Fazits: Verknappung, Verkürzung, Konzentration auf das Wesentliche. Darüber kann man streiten, wenn etwa in diesem Jahr der verlorene WM-Boxkampf von Luan Krasniqi in unzähligen und nichts sagenden Zeitlupen den Verdacht nährt, der Nachrichtenwert dieses Bildes des Jahres bestünde in erster Linie darin zu demonstrieren, dass das ZDF auch Boxen überträgt. Man kann sich des Weiteren darüber mokieren, dass weniger Ereignisse im Rückblick Platz haben, weil die Zahl von lustig gedachten und nicht schlecht gemachten Themen-Schnipseln gestiegen ist: Stoibers Hin und Her zwischen München und Berlin wird etwa illustriert durch die Gegenüberstellung von Weiß- und Currywurst, Oktoberfest und Love Parade, unterlegt von dem Song "Jein" der Rap-Formation Fettes Brot.

Puristen werden darüber hinaus die Zunahme der emotional verstärkenden Popmusik beklagen, und Nostalgiker die gezeichneten Inserts vermissen, die einst den Wechsel der Monate vor dem Bild eines Baumes vorführten, wo seit mehreren Jahren Januar, Februar und März im Stile der heute-Ästhetik vorüber fiepen.

Das alles aber wäre zu verschmerzen als Preis, der für die als notwendig geglaubte Modernisierung der Sendung zu zahlen ist. Unverzeihbar ist dagegen, dass das Album dem Kerner-Wahn von Schein-Aktualität hinterher hechelt und nicht mehr an Silvester, sondern bereits mitten im Dezember gezeigt wird. Letztes Jahr hat man so geschickterweise den Tsunami verpasst, und weil daraus ja nichts zu lernen ist, wurde in diesem Jahr die angenehme Lakonik von Norman Odenthals Anmerkungen lächerlich gemacht durch die feine Ironie des unvermindert aktuellen Jahres. Zu dem Kommentar, Susanne Osthoff sei entführt, erschien ein Laufband, das ihre Freilassung vermeldete. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.


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