Biomasse

DOKUMENTARTHEATER In Berlin und Basel erforscht der Filmemacher Andres Veiel in "Der Kick" den blinden Fleck Gesellschaft, in dem sich ein schauerlicher Mord ereignet hat

Nicht wenige werden sagen, in dem brandenburgischen Dorf Potzlow habe sich vor drei Jahren eine Tragödie ereignet. Zwei 17-Jährige und ein 22-Jähriger haben einen 16-Jährigen, mit dem sie an diesem Abend unterwegs waren, gequält und auf grausame Weise umgebracht. In der öffentlichen Wahrnehmung schien es sich um einen Fall von Neonazismus zu handeln: Die drei Täter trugen Glatze und Springerstiefel, das Opfer mit blondierten Haaren und weiten Hip-Hop-Hosen wurde als "Jude" beschimpft.

Der Dokumentarfilmer Andres Veiel hat diesen Vorfall zum Gegenstand eines Theaterstücks gemacht: Der Kick, aufgeführt vom Berliner Gorki-Theater und dem Theater Basel. In Filmen wie Die Überlebenden oder Black Box BRD hat sich Veiel als Spurensucher auf dem Feld des Biographischen erprobt. Er hat die Lebensgeschichte von toten Klassenkameraden beziehungsweise des von der RAF ermordeten Alfred Herrhausen und des in Bad Kleinen getöteten Terroristen Wolfgang Grams erkundet, um damit von der Verfasstheit einer Gesellschaft zu erzählen. Wenn Veiel jetzt die Bühne wählt, um von Potzlow zu berichten, ist das kein Ausflug in eine benachbarte Disziplin, sondern die einzige Möglichkeit, dem Stoff eine Form zu geben, wie man am Ende des neunzigminütigen Abends weiß. Wovon man im Film nicht erzählen kann, das kann man im Theater womöglich verstehen.

Der Kick ist keine Tragödie geworden; die Grenzsituation einer Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten, die gleichermaßen schuldhaft sind, sucht man vergeblich. Tragödie, im umgangssprachlichen Sinne gebraucht, ist das Ventil einer Betroffenheit, um der Erregung angesichts einer monströsen Tat Luft zu verschaffen. Veiels Bearbeitung (Dramaturgie Gesine Schmidt/Julia Lochte) ist Dokumentartheater, das sich allein auf Vernehmungsprotokolle, Gerichtsakten und Interviews stützt, die er sowie ein Filmteam des RBB in dem Dorf geführt haben. Gesprochen werden alle Rollen von zwei Schauspielern, Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch. Beide sind in schwarz gekleidet, und verhalten spielt ihr Outfit (Kapuzenshirt und Schnürschuhe) auf die Uniformierung der Rechten an, seines (Polohemd, Long Sleeve, Turnschuhe) auf den Stil des HipHop. Der Raum ist karg und unwirtlich, in beiden Fällen hat man das Theater gemieden zugunsten von großen Industriebrachen - in Berlin der Gewerbehof in der alten Königstadt, in Basel eine ehemalige Volksdruckerei. Das Bühnenbild (Julia Kaschlinski) beschränkt sich auf eine Bank und einen Bauwagen ähnlichen Container, der in hellem Weiß erleuchtet abwechselnd Verhörzelle oder Gerichtssaal ist.

Zu Beginn scheinen die Gegensätze klar: Links spricht die Mutter zweier der Täter, rechts die des Opfers. Je länger der Abend dauert, desto weniger lassen sich die Positionen derartig deutlich gegeneinander stellen. Potzlow ist kein Spielfeld, auf dem die Rollen eindeutig verteilt sind. Wenn die Stimme der Staatsanwältin den "fehlenden zivilisatorischen Standard" in dem Dorf beklagt, teilt man ihre Fassungslosigkeit, und stößt sich zugleich an der leichten Überspitzung des Tonfalls ins Arrogante. Veiel zeigt das Bild einer Gemeinschaft, das in einer öffentlich-medialen Wahrnehmung zu kurz kommt, weil der Fernsehzuschauer in der fernen Stadt die Vorurteile bestätigt sehen will, die er hat (Neonazismus, schweigende Mehrheit). Gleichzeitig bleibt das Bild blind, was sich auch der Beschränkung auf zwei Akteure und deren Spiel verdankt. Wrage und Lerch suchen nicht nach Original getreuer Nachahmung, sie präsentieren Typen, manchmal nahe an der Karikatur. Diese mimetische Grobheit konzentriert das Werk auf die Sprache, die im Falle der Vernehmungsprotokolle, in denen der nüchterne Ton der Polizeibehörden regiert, doppelt verfremdet wird. Für jede Rolle gibt es eine Pose: Mütter gucken immer verschüchtert, Väter thronen breitbeinig unentspannt. Am deutlichsten wird die Verschleierung des Individuellen in Matthias Muchow, einem Freund des Getöteten, dessen jugendlichen HipHop-Slang Lerch so scheinbar absichtslos engagiert verfehlt, wie Menschen es tun, die zu imitieren glauben, ohne es zu können.

Was sagt das Dorf? Veiel hat den Fokus geweitet. Der Vater der Täter-Brüder schwärmt von den DDR-Jahren, in denen er und seine Familie dank Schwarzarbeit am Wochenende wie Könige lebten. Eine andere Stimme erinnert an die Arbeitsplätze in den Jahren des Sozialismus, eine weitere beklagt die Enteignung, die Kollektivierung der Landwirtschaft. Eine dritte spricht vom Ende des Kriegs, von permanenter Zuwanderung in dem 600-Einwohner-Dorf, was zeigt, dass ein romantischer Begriff von Heimat, von Verwurzeltsein, von einer Ordnung der Welt in dem Sinne, das jeder seinen festen Platz hat, nicht möglich ist. Die Täter-Brüder waren die neu angekommenen Außenseiter lediglich fünf Jahre, bevor es der Opfer-Junge war. Ihr Rechtsradikalismus ist ein Accessoire der Jugendkultur, ein Ornament, das aber die breiten Fundamente von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit innerhalb des Dorfes schmückt. Der Vater, der seinen kahl geschorenen Jungen sieht, erinnert sich an die Schulausflüge ins Konzentrationslager und die dort gezeigten Filme. "Da ist keiner von den Nazis mit der Glatze rum gelaufen, die hatten alle anständige Frisuren. Die Einzigsten, die ne Glatze hatten, waren die Kommunisten, die Juden."

Was in dem Dorf verloren scheint, ist die Infrastruktur von Gefühlen und Werten. Die Öffentlichkeit, die reagieren müsste, besteht bloß aus Nachbarn, bei denen die Täter am Vorabend der Tat sich betrunken und dem Opfer ins Gesicht geschlagen haben. Die Eltern haben den Bezug zu ihren Kindern verloren und betrügen sich selbst mit den Lügen von gewaltloser Vergangenheit und idyllischer Zukunft. Wenn einer der Täter nach acht Jahren aus dem Gefängnis kommt, soll der Dachboden im Elternhaus ausgebaut sein, so wie in Filmen, "wo die Küche in der Stube ist". Der Vater, der davon träumt, ist invalid, er leidet unter Rückenschmerzen. Bei Veiel kann die Wahrheit das Bild von der Gemeinschaft nicht aufklären, alle Stimmen verklumpen zu einem Chor aus biographischer Masse, in dem die einzelnen Erzählungen leicht zu verwechseln sind. Monströser noch als die Tat scheint der Zusammenhang, in dem sie passiert ist.

François Truffaut hat einmal gesagt, er würde in seinen Filmen wegen des Gleichklangs der Namen nie einen Bernard und Gerard zeigen, sondern um dem Zuschauer das Verständnis zu erleichtern dem Bernard immer einen Emile gegenüberstellen. Im wahren Leben von Potzlow heißen die Protagonisten Marcel, Marco, Marinus, Schönfeld und Schöberl. Das ist schon das ganze Drama. Die Schwierigkeit, es zu begreifen, hemmt den Schlussapplaus.

Nächste Vorstellungen am Gorki-Theater in Berlin am 28., 29., und 30. Mai


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