Der Film-Verständiger

Filmkritik Der Autor Wilfried Berghahn wollte die Deutschen für das gute Kino begeistern. Ein neuer Band erinnert an ihn
Ausgabe 25/2017

In der 2005 begonnenen Reihe Film & Schrift der Edition Text+Kritik ist der 20. Band erschienen, und wenn Sie sich fragen, worin der Nachrichtenwert dieser Information bestehen soll, fragen Sie zu Recht: Eine Reihe von Büchern, die an das Wirken von Filmkritikerinnen erinnert, deren Namen selbst denen nicht in jedem Falle etwas sagen werden, die aktuell über Filme schreiben, hat vermutlich eine überschaubare Leserschaft. Die Zielgruppe, um es einmal so blöd zu sagen, von Film & Schrift ist das Archiv. Ein Ort, an den man geht, wenn man sich der eigenen Geschichte versichern, durch die Landschaften vergangenen Denkens spazieren will.

Wilfried Berghahn, dem Band 20 gewidmet ist, macht diesen Zweck unmittelbar anschaulich. Wenn Berghahn 1964 nicht schon gestorben wäre, im Alter von gerade 34 Jahren, würden wir ihn vermutlich als bundesrepublikanischen Geistesarbeiter kennen, als eine markante Figur der öffentlichen Debatte. So wie Jürgen Habermas, Günter Rohrbach, Dieter Wellershoff und Enno Patalas – die Freunde, Kollegen oder Wegbegleiter des jungen Berghahn.

Aus dessen kurzem Leben spricht der Eros des Bildungshungers der Nachkriegszeit. Berghahn gehörte zu einer Generation, deren Jugend spätestens im letzten Aufgebot des so genannten Volkssturms zu Ende ging und die in den 1950er Jahren begierig in die publizistische Sphäre des moralisch wie intellektuell versehrten Landes drängte. Am Ende arbeitet er nicht nur für die 1957 mit Patalas gegründete Zeitschrift Filmkritik, die sich selbstbewusst als avanciertes Forum von Diskurs begreift („Wir wollen es mit Walter Benjamin halten“, schrieb Patalas in der ersten Ausgabe der Filmkritik: „Das Publikum muß stets unrecht erhalten und sich doch durch den Kritiker vertreten fühlen“) – er ist auch für den Rundfunk und das Fernsehen tätig, macht Sendungen über Roberto Rossellini, Luis Buñuel und das gegenwärtige polnische Kino und sitzt über Buchprojekten (Berghahns Rowohlt-Monografie über Robert Musil war lange die einzige).

Sichtbar wird so eine breite, international angelegte filmkritische Arbeit, die auf Vermittlung aus ist: Die „Belehrung“, die in der Rezension einer Fernseharbeit Berghahns erwähnt wird, war kein Schimpfwort, sondern Lob, das die Erweiterung von Zuschauers Horizont meinte.

Die Notwendigkeit solcher Bildung liegt für Berghahn auf der Hand. In einem Text über die Filmclubs im Lande (219 zählt der Kritiker 1957), die Schulen des Sehens und der Auseinandersetzung sind, notiert der Kritiker ungeduldig: „Die Film-Freunde müssen langsam ein Publikum der Film-Verständigen werden, damit nicht immer wieder passiert, daß bemerkenswerte Streifen nicht verstanden werden.“ Man kann diesem Satz die bis heute geltende Enttäuschung anhören, dass Cinephilie einfach kein deutsches Wort werden will.

Frühe Ideologiekritik

Berghahn bringt seinem Publikum also Vittorio De Sica, Kon Ichikawa oder Satyajit Ray näher. Er interessiert sich aber auch für die deutsche Filmproduktion seiner Zeit, mit süffiger Ironie: „Schicksal aus zweiter Hand – das ist ein Titel, der über den meisten deutschen Problemfilmen stehen könnte.“ In einem Text von 1955, der das Filmschaffen beider deutscher Staaten bilanziert, bezeichnet Berghahn die DEFA-Produktionen wenig gnädig als „eine Reihe hemmungsloser Tendenzwerke“. Und dass im Westen ab 1950 schon jährlich mehr als 100 Filme herausgebracht wurden, kommentiert er betrübt: „Leider entsprach die künstlerische Entwicklung diesem rapiden Aufschwung nicht. Eher schien sie ihm umgekehrt proportional, denn wenn auch kein international vergleichbares Werk in den ersten Nachkriegsjahren gedreht worden war, so hatte es doch verheißungsvolle Ansätze gegeben.“

Besonderes Augenmerk legt der Kritiker Berghahn auf etwas, das man heute wohl Ideologiekritik nennen würde, was seinerzeit aber unter dem Begriff „Leitbilder“ diskutiert wurde. So bemerkt er zu historischen Monumentalfilmen aus den USA wie Attila, der Hunnenkönig oder Dschingis Khan – Die Goldene Horde am Beginn des Kalten Kriegs: „Auch dergleichen ist Leitbildproduktion. Im historischen Kostüm wird das Publikum an die Vorstellung vom unvermeidlichen Kampf des Europäischen gegen das Asiatische gewöhnt.“

In einem Filmkritik-Essay schreibt Berghahn 1961 über einen erfolgreichen Heimatfilm: „Wenn sich Ruth Leuwerik nach der Trapp-Familie drei Jahre lang in der Popularitätsskala der weiblichen Stars an der Spitze halten konnte (erst in diesem Jahr ist sie auf den zweiten Platz zurückgefallen) und in dieser Zeit immer nur Rollen spielte, die ihrem Publikum die Hoffnung bestätigten, daß unlösbare Probleme in unserer Welt nicht existieren, weil wir doch imgrunde alle das Herz auf dem rechten Fleck haben (das ‚Reine‘, das ‚Saubere‘!), sagt das mehr über die Mentalität des Bundesbürgers in der dritten Regierungsperiode Konrad Adenauers als die sogenannten sozialkritischen Filme, die in diesen Jahren entstanden sind.“

Man sieht: Wilfried Berghahn war vielleicht kein extravagantester Stilist, aber ein großer Ironiker. Außerdem widmet er seine Aufmerksamkeit den äußerlichen Aspekten des Filmgeschäfts, weshalb man nebenbei erfährt, dass es, auf Nachfrage Berghahns, 6.577 Kinos in Westdeutschland und Westberlin gab und 801 Millionen Kinobesuche im Jahr 1957.

Info

Wilfried Berghahn. Filmkritiker Rolf Aurich/Wolfgang Jacobsen (Hg.), mit einem Essay von Michael Wedel Edition Text+Kritik, Film & Schrift Band 20, 321 S., 28 €

Das Buch wird am 22. Juni im Berliner Kino Arsenal mit einem Filmprogramm vorgestellt

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