Cognac?

Tatort Man könnte ewig weiterloben: Der Kieler "Tatort: Borowski und die Frau am Fenster" füllt die Form mit präzisem Spiel, schönen Sätzen und einem köstlichen Sinn für Humor

Ein herrlicher Fall! Wenn man davon ausgeht, dass der Sonntagabend vor allem Routine ist, dass man ästhetische Innovationen, politischen Wagemut und alles ungemein Avancierte eher zu anderen Zeiten und in anderen Kontexten zu ertragen bereit ist (was der Graf'sche Polizeiruf und seine Resonanz in unserer beschaulichen Gesprächsrunde ja gezeigt hat), dann ist der Kieler Tatort: Borowski und die Frau am Fenster top of the pops, gleich hinter dem legendärst-unerreichbaren Schweighöfer-Tatort, in dem zu unserer Herzerwärmung eine radikal-innovative Form von Umverteilung betrieben wurde.

Lange schon nicht mehr einen in seiner Solidität so bezaubernden Sonntagabendkrimi gesehen. Und der Preis für die Meisterschaft in der Genrebeherrschung (die naturgemäß Genreübertretung ist) ist das Aussparen von gesellschaftlichen issues. Bis auf die, nebensächliche, Migrations-High-Class-Sexarbeitsanlage in der Figur der bald ermordeten Valeska Orschanova (Karolina Lodyga) ist Borowski und die Frau am Fenster (und die gefälligen Genderturbulenzen) eher psychologisch denn gesellschaftlich interessiert: an der Psychopathologie einer zu stark liebenden Frau, die Welt nach dem Gusto ihrer Zuneigungen organisiert.

Das erste, was für die Folge einnimmt, ist die Langsamkeit, mit der auf den Fall hingearbeitet wird. Wobei schon in den wenigen Szenen, in denen die Frau am Fenster, Charlotte Delius (die große Sybille Canonica), die Aufmerksamkeit des Nachbarpolizisten Nielsson (nicht minder groß: Dirk Borchardt) durch wiederholte Geschwindigkeitsübertretung für sich zu gewinnen versucht und hernach am Fenster den heimgekehrten sich umziehenden Nielsson beobachtet in unausgesprochener, aber doch spürbarer sexueller Erregung.

Twin Towers Wallpaper

Und anders bei einem Großteil der frühen Derrick-Folgen, wo der Mörder ebenfalls bekannt war und danach trotzdem so ermittelt wurde wie beim Standard-Who-dunnit, herrscht hier Spannung, obwohl man sieht, wie unglaublich sauber und professionell die liebestolle Tierärztin im Schutzanzug und mit diesem fancy Elektroschocker ihr krasses Mordwerk an der armen Valeska (amazing Kostümbild: Petra Kilian) verrichtet. Auch das Szenenbild ist nicht genug zu loben (dieses schreiende New-York-Tapetenposter samt Twin Towers: Zazie Knepper) – wie subtil die ästhetisch eher unterkomplexe Einrichtung von Nielssons Haus daherkommt, ohne dass da wie in den Abstiegsangsthorrorbuden der Privatfernsehwirklichkeit jemand verraten würde wegen seines nicht sehr feinen Geschmacks, das ist eine Leistung, die man nicht hoch genug schätzen kann. Und wenn wir schon beim Loben sind: die präzisen Schauspieler (bis hin zu Boros Sidekick, gespielt von Jan Peter Heyne), die mit dem wenigen Text alles zu sagen wissen und jeden Satz richtig. Der Schnitt (what a name: Gunnar Wanne-Eickel) und die Regie (Stephan Wagner). Und das Beste ist das Drehbuch (Sascha Arango).

Die übersehene Zahnspange wird zum entscheidenden Link zum Verbrechen, das aufgrund der sonstigen Spurenlage keines hätte sein müssen – daher die Spannung. Selbst für die Nebenhandlung gilt, was die Krimigeschichte auszeichnet: Sie ist genau, von trockenem Humor, in ihrer Überdrehtheit sympathisch (diese Odd Couple-Story von Milbergs Borowski und dessen von Thomas Kügel gespieltem Vorgesetzten Schladitz, der am Telefon wie Jack Lemmon fragt, was Walter Matthau Borowski abends essen will – allein da könnte man jede Szene, jedes Detail ausschneiden und an die Wand kleben).

Sibel Kekilli ist nun da als Sarah Brandt, und doch anders als bei ihrem ersten Auftritt vor fast einem Jahr, wo sie noch eine Freizeitpsychologin mit Zug ins Landmädchenhafte war. Jetzt ist sie Polizistin mit Heuallergie und auch noch etwas anderem, Kirremachendem, was, das ein Kritikpunkt, wenn es erlaubt ist, in den Händen anderer Autoren, anderer Regisseure zu einer üblen Krankheitsgeschichte ausgebaut werden

kann

wird. Aber wie Sarah Brandt hier im Schreibtischstuhl fläzt und schon mal ohne richterlichen Beschluss die Datenbanken scannt, damit's schneller geht, das ist eine Freude, weil es Sibel Kekilli so viel Spaß macht und dem Zuschauer so viel Spaß macht und eine Normalität gestattet, die sich nicht laufend erklären muss.

Man könnte noch ewig so weiterloben. "Ich sehe sie sind alle irrsinnig dynamisch, hochmotiviert und wild darauf, bei der Mordkommission anzufangen."

Welch schöner Satz (1): "Man möchte es nicht aussprechen, aber man ahnt doch Böses"

Welch schöner Satz (2): "Sie sprach Akzent?"

Ein Passwort, das man sich merken muss: LECK_MICH

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