FREITAG: Hallo.
INGE KELLER: Guten Tag. Hallo sage ich am Telefon.
Guten Tag. Ich bin gekommen, um mit Ihnen über das neue Jahr zu sprechen.
Das ist schnell gesagt. Es gibt Angebote, von einem Theater und für einen Film. Beides interessiert mich sehr. Mehr kann ich darüber noch nicht sagen, denn beides ist, wie man früher sagte, noch nicht in dem Topf, wo´s kochen soll.
Was ist denn neu für Sie?
Die Verballhornung und Zerstörung der deutschen Sprache. Diese Amerikanismen, bei denen ich mich frage, woher kommt das? In Frankreich und Italien, diese Länder kenne ich ein bisschen, weil ich dort Freunde habe, wäre das ausgeschlossen. Im Radio habe ich vor Kurzem gehört: "Und nun ein Hit von Joseph Haydn". Neulich kam ein Prospekt ins Haus, und da standen Worte drauf wie "Event" oder "Light Entertainment Centre". Was soll das denn sein? Dafür kann man doch auch eine deutsche Bezeichnung finden. Schauen Sie mal auf der Straße, da gibt es kaum noch Geschäfte mit deutschen Namen. Ich verstehe es nicht.
Die Menschen, die ihren Blumenladen "Flower Shop" nennen, halten das vermutlich für modisch. Aber hat das nicht auch etwas Komisches, ein Blumenladen in einer deutschen Kleinstadt oder einem Berliner Bezirk, der sich "Flower Shop" nennt?
Komisch - ich verstehe, was Sie meinen. Anfangs habe ich das auch komisch gefunden, inzwischen bin ich so zornig geworden, dass ich nicht mehr lachen kann, es wächst wie ein Geschwür. Wo leben wir? Dabei ist Englisch ja eine schöne Sprache, wenn sie richtig gesprochen wird. Aber wieso benutzt man englische Bezeichnungen, wenn man es auch auf Deutsch sagen könnte?
Bei jüngeren Leuten hat das sicherlich etwas mit der Sozialisation zu tun. Die Jugendkultur seit den sechziger Jahren war ja sehr stark durch Amerika beeinflusst.
Es reden ja nicht nur die Jungen so, die sich vielleicht einen Spaß draus machen, sondern auch die Älteren. Meine ehemalige Garderobiere sagte immer ununterbrochen: Okay. Okay. Okay. Dann sagte ich: Hören Sie, das steht ihnen einfach nicht, dieses Okay, warum sagen sie andauernd okay? Sehen Sie, für okay gibt es das wunderbare Worte: juut, ein schönes Berliner Wort. So knapp. Oder: Dufte. Knorke. Prima - alles wunderbare Worte. Und ich sage immer den Jungen, wenn ihr das benutzt, die gucken euch alle an wie ein Auto und ihr seid mit dem Wort die Größten, garantiert. Das hat auch schon geklappt.
lauben Sie daran, dass es immer noch etwas Neues geben kann?
Ach, neu und alt. Erstens: Es ist alles schon mal da gewesen. Und zweitens: Es gibt nur Gutes oder Schlechtes, Kunst oder Kunstgewerbe. Aber es gibt nichts Neues. Andererseits: Die Aufführungen von Michael Thalheimer liefern in zwei Stunden den Extrakt von des Schriftstellers Stoff. Natürlich recht fraglich, aber, aber aber... Es ist schwer, Adams Bart wieder zu erfinden oder neu zu beschreiben. Wenn ich durch den Wald gehe, gerade jetzt im Winter, wenn die Bäume entlaubt sind, dann sind sie besonders interessant, grafisch interessant. Das ist schön zu sehen, das Grafische der Bäume. Eine wunderbare Sache. Ich sehe Bäume, Platanen, vom Sturm zerstörte Bäume oder gar vom Blitzschlag getroffene Bäume. Und denke mir, das sind Plastiken von einer solchen Schönheit, so stark, dass ich mir sage, oh Gott, müssen die Bildhauer einen Mut haben und eine Kraft, um zu schaffen und zu schaffen und zu schaffen. In der Natur ist ja alles da.
Ist das eine Erkenntnis, die neu für Sie ist?
Das habe ich alles von Niemeyer-Holstein gelernt, dem Maler auf Usedom. Der hat mich Sehen gelehrt. Wenn Sie in einer Ausstellung sind, wo Plastiken ausgestellt sind, dann müssen sie natürlich erst mal herumgehen, sie von allen Seiten betrachten, auch von hinten. Und dann müssen Sie sie berühren, über den Rücken oder den Hintern fahren mit der Hand, Sie müssen sie spüren, die Plastiken. Da müssen Sie aber aufpassen, dass keener kiekt. Bisher ist es mir immer gelungen.
Zeichnen Sie denn selber?
Nein, leider nicht. Ich hab nicht mehrere Begabungen, ich habe nur eine. Und das ist auch gut so. Ich habe mein Leben im Theater verbracht. 57 Jahre Deutsches Theater in Berlin. In diesem Jahr hatte ich mein 65. Bühnenjubiläum.
In der Zeit haben Sie viele Intendanten erlebt, was doch auch immer Veränderung bedeutet.
Ich weiß schon nicht mehr, wie viele es waren. Ich müsste es ausrechnen. Es gab einige, von denen ich mich gern verabschiedet habe. Und einige, von den ich mich ungern verabschiedet habe: Wolfgang Heinz habe ich in dankbarer Erinnerung, von dem ich auch das Handwerk des Schauspielers gelernt habe. Dieter Mann, der das Deutsce Theater samt Ensemble in schwierigen Zeiten erfolgreich über manche Klippe manövriert hat. Gerhard Wolfram, ein leidender, zerrissener Genosse, der hervorragende Inszenierungen von Alexander Lang herausbrachte. Bernd Wilms habe ich als sensiblen, kulturvollen Intendanten erlebt, mir fällt der Abschied schwer, wenn er in diesem Jahr geht. Thomas Langhoff kannte ich schon als Bub, er ist mir so ans Herz gewachsen, dass ich nicht in der Lage bin, etwas Kritisches über seine Zeit am DT zu sagen. Er war ein höchst temperamentvoller Komödiant. Im besten Sinne des Wortes. Er hat mich als Ehrenmitglied im DT aufgenommen.
Was bedeutet das?
Da hängt jetzt eine Ehrentafel mit meinem Namen im oberen Foyer. Eduard von Winterstein, Elisabeth Bergner, und und und - Inge Keller. Und wenn ich nicht mehr da bin, wird die immer noch da hängen. Das ist doch eine schöne Vorstellung: Ich bleibe im DT. Ich bleibe ihnen auf dem Nacken sitzen, den Gauklern.
Die vielen Rollen, die Sie gespielt haben, waren das immer neue Leben?
Sicher, ich habe 100 Leben gelebt, nicht nur eins. Und ich bin oft gestorben auf der Bühne. Jetzt sage ich mir, in meinem hohen Alter: Fräulein, eines Tages stehst du nicht mehr auf und verbeugst dich vorm Vorhang. Das ist merkwürdig. Wie oft bin ich gestorben und dann Vorhang und dann Verbeugen. Das ist ein merkwürdiger Gedanke: Eines Tages stehst du nicht mehr auf und verbeugst dich.
Ändert sich etwas am Verhältnis zum Tod, wenn man ihn auf der Bühne so oft geprobt hat?
Das hat damit nichts zu tun, gar nichts. Das Verhältnis zum Tod, mit dem man leben muss, sollte man früh regeln: Je eher, umso besser. Der Tod wird immer freundlicher, nicht böser.
Je eher man sich mit dem Tod abfindet, desto weniger bedrohlich ist er?
Es wäre gut, wenn man die Endlichkeit des Lebens schon früh im Kopf hat. Weil man dann, wie ich jetzt seit mehreren Jahren feststelle, weitaus bewusster lebt, bewusster den Tag, die Stunde lebt. Dass man weiß: Es gibt keine Stunde, keinen Tag, der zurückkommt. Das zum Beispiel ist ein Reichtum des Alters.
Vergeht die Zeit im Alter langsamer oder schneller?
Sie rast! Erschreckend.
Aber gibt es nicht eine Form von Langeweile, die daher kommt, dass man schon so viele Jahre hat kommen und gehen sehen?
Langweile? Ich habe mein Leben lang nicht erfahren, was das ist. Die Neugier ist wach, also jung geblieben.
Vielleicht kann man das ja auch von der anderen Seite betrachten: Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es.
Es gibt einige dumme Sprüche. Zum Beispiel: "Jeder ist ersetzbar." Günter Gaus bleibt in der politischen Landschaft unersetzbar. Oder: "Die Zeit heilt alle Wunden." Die Wunde Wolfgang Langhoff heilt nicht. Nach der 1963 ihm aufgezwungenen Demissionierung, von seiner Partei, seinen Genossen - ich war nie in meinem Leben in einer Partei -, hatte der Krebs grünes Licht, freie Fahrt. Diese Wunde heilt nicht.
Neu und alt sind die beiden Seiten der Zeit, die wir kennen. Was ist Zeit heute für Sie?
Meine Zeit ist sehr knapp geworden. Ich habe wie gesagt ein hohes Alter, und bin vor kurzem noch älter geworden. Fred Düren hat aus Jerusalem angerufen und mir auf der Mundharmonika "Happy Birthday" gespielt. Dann hat er gefragt, ob ich den Mond heute schon gesehen hätte. Ich: nein. Ich sagte, ich gehe jetzt raus auf die Terrasse, und wir treffen uns auf dem Mond. Natürlich, das Alter hat seinen Preis. Wie ich jetzt hier sitze und ganz konzentriert mit Ihnen rede, das funktioniert einige Stunden. Da bin ich sehr angespannt. Ja, das Alter hat seinen Preis. Aber es hat auch seine Schönheit.
Daraus spricht ein gewisser Optimismus. Würden Sie sagen, dass das etwas ist, was Sie immer charakterisiert hat?
Ich bin Schütze.
In der Astrologie bin ich nicht so bewandert.
Na, dann gucken Sie mal nach.
Kann man ohne Optimismus leben?
Ohne Hoffnung kann ich nicht leben. Ich wünsche Ihnen Hoffnung für Ihr neues Jahr.
Das wünsche ich Ihnen auch.
Das Gespräch führte Matthias Dell
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