Das Echo der Wut

Kinoerzähler Der Autor und Regisseur Thomas Harlan feiert am 19. Februar 2009 seinen 80. Geburtstag. Besuch bei einem faszinierenden Unbekannten des deutschen 20. Jahrhunderts

Lungensanatorium. Vielleicht sagt das Wort schon alles über das Leben von Thomas Harlan und mehr noch über das Erzählen über das Leben von Thomas Harlan, was sich beides schwer voneinander trennen lässt. Seit über acht Jahren lebt Harlan in einer Lungenklinik in Bayern, das Haus steht auf einer kleinen Anhöhe in einem Ort bei Berchtesgaden. Aber wer davon schreibt, sagt nicht Klinikum, sondern Sanatorium. Das klingt nach Thomas Mann, und dann wird die Anhöhe zum Zauberberg, und auf der anderen Seite des Tals liegt, tatsächlich, der Obersalzberg, Hitlers Berghof. Thomas Harlan ist der älteste Sohn von Veit Harlan, dem Regisseur von Jud Süß und Kolberg, Goebbels war für ihn als Kind „Onkel Joseph“. Und so geschieht, was häufig mit dem Leben von Thomas Harlan geschieht, wenn es erzählt wird: Alles wird zu Geschichte, wird mythisch, obwohl manches auch banal ist. Das mit dem Berghof stimmt, aber wie ein Sanatorium sieht die leicht angejahrte Funktionsarchitektur der Klinik nicht aus.

Thomas Harlan selbst sagt Spital. „Ich würde gar nicht mehr da sein, wenn es dieses Spital nicht gäbe, dann hätte mich irgendein Orkus längst geschluckt.“ Den Berghof kann er von seinem Zimmer aus nicht mehr sehen, seit er ins Erdgeschoss des Klinikums verlegt worden ist. In einem Dokumentarfilm, der Ende April in die Kinos kommt und der den Umgang der Kinder und Enkel mit Veit Harlan thematisiert, taugt die Nähe zum Obersalzberg noch als denkwürdige Pointe: Thomas, der am entschiedensten gerungen hat mit dem Vater, mit dessen Verantwortung, sein ganzes Leben lang, Thomas landet am Ende in Blickweite des Berghofs, während ein jüngerer Halbbruder, dem nicht über die Lippen kommen will, welche unrühmliche Rolle der Vater gespielt hat unter Hitler, sich als Wendland-Bauer zivilgesellschaftlich gegen Atommüll engagiert.

Außenseiter, mittendrin

Thomas Harlan ist mehr als ein Sohn. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass, wenn man so alt ist, wie ich das bin, noch Sohn von irgendjemand sein könnte“, hat er in einem Deutschlandradio-Feature gesagt, das im Dezember ausgestrahlt wurde. Am 19. Februar wird er 80. Aber immer muss man mit dem Sohn anfangen, wenn man Thomas Harlan erklären will. Harlan ist ein großer Unbekannter, ein Außenseiter des 20. Jahrhunderts, was umso merkwürdiger ist, weil er mittendrin gelebt hat. Wer vor Metaphern keine Scheu hat, könnte sagen: Thomas Harlan ist der Igel der Geschichte, der überall immer schon gewesen ist: privilegierte Kindheit im Herzen des Dritten Reichs, wo „Onkel Joseph“ nachts das Kaufhaus Wertheim aufschließen lässt, damit der Junge sich eine Spielzeugeisenbahn aussuchen kann; Jugendjahre in Paris in einem Umfeld, zu dem Namen wie Tournier, Boulez, Deleuze gehören; mit Klaus Kinski, als, wie es heißt, erste Deutsche nach 1945 in Israel; Reisen in Stalins Sowjetunion; 1954 in Japan mit dem Vater Dreharbeiten am Film Der Fall Dr. Sorge nach seinem Buch; im Zuge der Harich-Affäre in Ostberlin, um sich für einen Redakteur des Sonntag beim ZK zu verwenden; 1958 Inszenierung des eigenen Theaterstücks Ich selbst und kein Engel, einer „dramatischen Chronik aus dem Warschauer Ghetto“ in West-Berlin, es spielen neben anderen Manfred Krug, Armin Mueller-Stahl und der spätere Tagesschau-Sprecher Wilhelm Wieben; in Polen für drei Jahre, Arbeit im Archiv, um die Vorwürfe an die nicht verfolgten deutschen Naziverbrecher zu belegen, die er bei der 50. Vorstellung des Stücks in einer Petition gemacht hat und die ihm Klagen eintragen, unterstützt vom italienischen Verleger Feltrinelli, das Projekt Das Vierte Reich wird nie vollendet, liefert aber Material für Anklagen in Deutschland, Freundschaft mit dem Staatsanwalt Fritz Bauer; Arbeit für die italienische APO Lotta continua, Reisen zu den Revolutionen in der Welt, Vietnam, Lateinamerika, in Portugal macht er 1975 den Film Torre Bela mitten in der Revolution; 1980 bis 1985 teilweise in Ost-Berlin, Arbeiten an dem Film Wundkanal, der schließlich in Paris gedreht wird und in dem ein SS-Obersturmbannführer sich in einem fiktiven RAF-Volksgefängnis selber spielt und selbst verhört, gleichzeitig entsteht mit Notre Nazi ein Film, der die Dreharbeiten dokumentiert; 1989/1990 in Haiti, Arbeiten an dem dritten Film, Souvenance, bis ins Jahr 2000 zumeist in Paris, aber auch in Italien, in der Schweiz; seitdem drei Bücher, Rosa, Heldenfriedhof und der Geschichtenband Die Stadt Y’s, die allesamt Fiktionen aus der Wirklichkeit erzählen.

Fakt und Fiktion

Man kann Harlans Leben so nicht erzählen, und man kommt ihm nicht bei, in dem man es an Jahreszahlen kettet, die anderswo Biografie ergeben oder unter Begriffe fasst, die aus dem Lexikon stammen: Künstler, Revolutionär, Rechercheur, Filmemacher, Schriftsteller. Christoph Hübner hat mit Harlan jahrelang an einem Dokumentarfilm gearbeitet, Thomas Harlan. Wandersplitter, der irgendwo im Untertitel „eine Anti-Biografie“ heißt, und in dem das Leben aufgelöst wird in Episoden, Bruchstücke, Splitter eben, die eher Erzählung sind als Bericht. Der Film und Harlans Bücher haben ihn zurückgeholt aus der Unsichtbarkeit, 2001 war er eine Sendung lang bei Alfred Biolek zu Gast, dessen Redakteur, Jean-Pierre Stephan, hat später einen Gesprächsband mit Harlan veröffentlicht. So geht es häufig: Wer auf Thomas Harlan stößt, kommt von ihm schwer los. Die kleine Filmzeitschrift Revolver veröffentlicht Erzählungen von ihm, die neue Filmzeitschrift Cargo ein Interview. Und das war schon immer so: Der Schriftsteller Hans Habe schrieb 1966 einen „Schlüsselroman“: Christoph und sein Vater, Christoph ist Harlans zweiter Vorname.

Es herrscht also reges Leben in dem Krankenzimmer, an das Thomas Harlan gebunden ist. Der Besucher trifft auf einen freundlichen, ungemein zuvorkommenden Mann, obwohl Harlan es ist, der zuerst der Aufmerksamkeit bedarf. „Ich habe mich jetzt selbst sehr im Kopf. Das ist neu, das war früher nicht der Fall, das Wort Ich war immer klein geschrieben. Neuerdings nicht. Das beunruhigt mich, weil es sehr schön ist, durch das große Ich die kleineren Ichs nicht zu verdrängen. Es kommt so viel heraus, wenn man die anderen in Ruhe lässt mit sich, wenn sie nicht eingeschüchtert werden durch deine Wichtigkeit.“ Man kann sich ausmalen, dass Thomas Harlan etwas Einschüchterndes gehabt hat, durch seinen Intellekt, durch seine Energie, wenn man Bilder sieht von dem herausfordernd schönen Mann, Fotos oder auch die Aufnahmen aus Notre Nazi, auf denen er rastlos raucht und dandyhaft ist und doch sehr bestimmt und gefährlich suggestiv. Und wenn man spürt, wie das Echo seiner riesenhaften Kraft, einer ungeheuren Wut noch heute aus dem kranken Körper tönt. Harlan ist ein einnehmendes Wesen auch, weil das Denken, das er entwirft, so einzigartig ist. Dass die Sowjetunion an tschechischen Schuhen zugrunde gegangen ist; dass der Vietcong mit Bienen den Krieg gewonnen hat; dass man die führende Rolle sozialistischer Parteien an den Kennzeichen erkennen kann, die mit weißer Farbe auf die Plane eines jeden Lastwagens noch einmal geschrieben sind; dass die unerledigte Vergangenheit nirgendwo anschaulicher wird als in einem Fliesengeschäft in Stuttgart, in dem sich zwischen portugiesischen Kacheln alljährlich zwanzig, dreißig Nazis treffen, deren Namen kaum jemand kennt und die doch eine große Rolle am deutschen Verbrechen des 20. Jahrhunderts gespielt haben – das alles sind Wahrnehmungen, die überzeugend klingen, wenn Harlan sie erzählt in einer anregenden Mischung aus Fakt und Fiktion.

Sprechgesang

Harlan hat sich selten festgelegt. Nicht künstlerisch: „Jede Sache würde ein anderes Medium erfordern. Der Anbau von Sojabohnen in einem revolutionären Gebiet, erobert von venezuelanischen Reisbauern – das verlangt nicht nach einem Film, das verlangt nicht nach einem Buch, das verlangt vermutlich nach wissenschaftlicher Arbeit. Ich habe mich sehr um Sojaanpflanzung gekümmert eine Zeitlang, und das natürlich alles studieren müssen, aber mit dem Zorn, mit dem man bestimmte Sachen lernt, spart man Zeit, man macht keine Umwege. Und er hat sich politisch nicht festgelegt. Das vielleicht bewusster, um nicht angreifbar zu werden. Wenn „undogmatisch“ in der linken Rhetorik nicht ein Begriff wäre, der im Laufe der Zeit, in der er sich behaupten musste, selbst ein wenig starr geworden ist, auf Harlan träfe er zu. Er hat keine Scheu, sich Kommunist nennen. Was das bedeutet? „Gar nichts. Nur Treue zu den Begriffen, die man sich genannt hat. Und Zeichen dafür, was man von mir fordern kann.“

Solidarität gehört dazu: Als Andreas Baader und Gudrun Ensslin in Italien sind, hilft Harlan mit Organisation. „Die RAF hat analytisch beinahe immer recht gehabt, in beinahe allen Situation, auch wenn unerhört übertrieben. Das Übertriebene ist ein Teil der Wirklichkeit, also auch der bestehenden, es waren übertriebene Verhältnisse, ihre Beschreibung von Vietnam war übertrieben, und das stimmte mit der übertriebenen Geschichte überein. Das andere war, dass ihre Handlungen dem Gegner abgeguckt waren, und das hat mich davon überzeugt, dass ich damit nichts zu tun habe; die ungeheure Schwäche, die ich darin sah, dass jemand seinen Kampf führt und sich nicht etwas einfallen lässt, was über den Gegnerkampf der alten Form hinaus geht.“ Was wäre das gewesen? „Fantasie. Etwa die Forderung, wir schnappen uns zwei Minister und dann zahlt man an alle KZ-Häftlinge ihre Millionen gestohlener Arbeitsstunden zurück, das hätte ich gemacht.“

Mehr noch als das, was Harlan sagt, ist ein Faszinosum, wie er das tut. Sein Reden, sein Erzählen ist Literatur, nicht nur aufgeschrieben in den wortgewaltigen Büchern, vielmehr ausgesprochen durch seine sinnende, fast singende Stimme. Harlans Texte, die gesprochenen wie geschriebenen, sind musikalisch. Vielleicht liegt man nicht falsch, wenn man sich Thomas Harlan als Autor und als Kunstfigur seiner selbst vorstellt, als Protagonisten, den die Erzählung seines Lebens und die Darstellung seines Denkens hervorbringt. Und dann klingt manche Aussage nicht zufällig wie der Gedanke zu einer eigenen Poetik: „Dass das, was richtig und was falsch ist, mir noch so wichtig ist, das hat sich sehr geändert. Das Wahre und das Unwahre ist wichtiger als das Richtige und das Falsche.“

Filme und Bücher von und über Thomas Harlan

Es macht fast keinen Unterschied, ob Thomas Harlan einen Film gedreht hat oder nur geträumt, solange er davon erzählt. Klaus Kinski etwa, mit dem er nach langer Unterbrechung in den achtziger Jahren wieder Kontakt hatte, sollte einen Kommandanten der sowjetischen Marine spielen, der sich am Ende des Sozialismus selbst versenkt. Der tollste nie realisierte Film heißt Arsen: Die Möglichkeit zu erkunden, wodurch die südliche Bronx in Flammen gehalten wurde. Da sind ungefähr 5.000 Wohnhäuser angesteckt worden, durch eine Gruppe von guatemaltekischen Kindern mit Hilfe der örtlichen Feuerwehr, die große Löhne dafür erhielt. Die Kinder erhielten ihrerseits Löhne aus einer belgischen Millionärskasse. Das gleiche gabs umgekehrt, es gab die Stadt, die ein anderes Regiment der Feuerwehr auf diese Gruppe ansetzte und versuchte, alles lahm zu legen. Ich hatte vor, ein Kamerateam in der einen, in der Kinderwelt zu haben, und ein Kamerateam in der anderen Welt, der bürgerlichen, die mit der Feuerwehr den Versuch machte, die Feuerwehr zu bekämpfen, weil es ja offiziell nie so war, wie ich es sage. Das war unglaublich, da hätte man alle Weltkonflikte verstehen können. Der Unterschied zwischen den realisierten und nur geträumten Filmen ist auch deshalb so gering, weil die ersteren nicht zugänglich sind. Das soll sich ändern, für das Frühjahr ist in der DVD-Edition des Filmmuseum München Wundkanal in einer Ausgabe mit Notre Nazi von 1984 angekündigt. In Vorbereitung sind Torre Bela (1975) und Souvenance (1991). Erhältlich in der Edition ist bereits Christoph Hübners Dokumentation Thomas Harlan. Wandersplitter (2006). Felix Moellers Dokumentarfilm Harlan Im Schatten von Jud Süß kommt am 23. April in die Kinos. Bei Eichborn-Berlin liegen Harlans Bücher Heldenfriedhof (2006) und Die Stadt Ys (2007) sowie der Gesprächsband Thomas Harlan. Das Gesicht deines Feindes von Jean-Pierre Stephan vor. Der Roman Rosa (2000), ebenfalls dort erschienen, ist nur antiquarisch zu haben. Auf der Internetseite des Filmmagazins Cargo finden sich Kritiken zu Harlans Filmen und sowie zu seinen Büchern und

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