Am Anfang steht das Bild von einem Ende. Es zeigt einen sterbenden Mann in einem Bett. An dem Bett sitzt ein junger Mann; das Kinn auf die linke Hand gestützt schaut er auf zu dem alten. In dem Blick liegt beides, eine skeptische Distanz und eine zärtliche Nähe, was der alte Mann zu spüren scheint; sein Blick sieht aus wie das Ahnen um die tausend Worte, die der junge Mann ihm sagen könnte.
Der alte Mann ist Veit Harlan, der prominenteste Filmregisseur des Dritten Reichs, der mit Jud Süß (1940) das Gift des Antisemitismus in ein massentaugliches Melodram verpackt und den Durchhaltefilm Kolberg (1945) gedreht hat. Der junge Mann ist Thomas Harlan, sein erster Sohn, die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1964 auf Capri, wenige Tagestundenminuten vor Veit Harlans Tod. Im vergangenen Jahr ist Thomas Harlan gestorben, 81-jährig, nun erscheint sein letztes Buch, das er vier Monate vor seinem Ende diktiert hat: Veit.
„Wer das Ende nicht erlebt hat, kennt den Anfang nicht“, steht an einer Stelle in Veit. Das könnte das Credo dieses nur 90 Seiten schmalen Buches sein, wie es das Credo von Thomas Harlans Schaffen sein könnte, das zwar biologische Grenzen hat – Geburt 1929 in Berlin, Tod 2010 in Berchtesgaden –, das sich um Anfang und Ende oder Ende und Anfang als Beruhigung von Erzählung nie geschert hat.
Drei Bücher hat Thomas Harlan seit dem Jahr 2000 veröffentlicht, seit er in eine Lungenklinik nach Deutschland zurückgekehrt war. Er hatte zuvor Jahre im Ausland, in Italien und Frankreich, gelebt, weil er in polnischen Archiven über deutsche Kriegsverbrecher recherchiert hatte und daraufhin in der Bundesrepublik wegen Landesverrats angeklagt war. „Bei einem solchen Vater mündig zu werden, heißt missraten“, hat Thomas Harlans Witwe, die Filmemacherin Katrin Seybold, geschrieben. Missraten meint einen rastlosen, weltschillernden Lebenslauf, der sich aus der wütenden Gegenbewegung zum Vater ergeben hat.
Hassen und lieben
Seine drei Bücher, Rosa, Heldenfriedhof und der Erzählungsband Die Stadt Ys machen aus Lektüre Arbeit. Eine lohnende Arbeit, weil sich der Autor Harlan mit Fiktionen schützt gegen ein vorschnelles Ich, das es psychologisch sauber abgegrenzt mit dem Ungeheuerlichen des Nationalsozialismus aufnehmen wollte, der industriellen Vernichtung von Menschen. Harlan wechselt die Perspektiven, tarnt die Protagonisten, lässt, wenn man das so sagen kann, Handlung konkurrieren mit dem eingebauten Kommentar, schweift ab, verliert sich scheinbar in Details, zitiert Akten.
Wer Thomas Harlan begegnet in seinen Büchern, der kann nicht unbeeindruckt bleiben. Immer wieder wird er zu ihnen greifen, wieder lesen, neu lesen, einzelne Passagen, manchmal nur Sätze. Veit ist in diesem überschaubaren und zugleich endlosen Werk chronologisch das letzte Kapitel. In Wirklichkeit ist es der Anfang, weil es um den Moment am Totenbett seines Vaters kreist, um den lebenslangen Kampf mit der Erinnerung an einen Mann, den man nur „hassen und lieben“ kann, wie die Verlegerin Inge Feltrinelli sagt.
Veit beginnt mit einem fait divers des Grauens, einer jener Begebenheiten, die in der offiziellen Wahrnehmung des Dritten Reichs eine Fußnote sind. Nicht aber für Harlan, der sich das Wissen darüber bei seinen von Giangiacomo Feltrinelli unterstützten Forschungen in polnischen Archiven Ende der fünfziger Jahre angeeignet und daraus eine andere Geschichte des deutschen Verbrechens entworfen hat. Bei Harlan heißen die Mörder nicht zuerst Hitler, Himmler, Goebbels, sondern, wie hier, Erich Fuchs und Helmut Kallmeyer, der sich Blaurock nennt – zwei unbelangte Verwalter des organisierten Mordes der Aktion Reinhardt: „Bereits am Vormittag des 15. März ließ Blaurock-Kallmeyer von einem Fuhrwerker vier Statisten und Kleindarsteller herbeischaffen, die Fuchs, wie zuvor mein Vater für seinen Film, ausgewählt hatte, sperrte sie in eine Badekammer des Duchgangslagers Belzec und probte noch am selben Tag um zwei Uhr nachmittags den Tod im Gas.“
Film als Mordinstrument
Veit Harlan hatte für Jud Süß und Die Goldene Stadt (1942) Juden aus den Ghettos als Komparsen verpflichtet (ein Umstand, den Thomas Braschs Film Der Passagier von 1987 aus dem Blickwinkel der survivors guilt aufgreift) und dem Sohn eine Postkarte geschrieben, die in diesem ein Leben lang nachhallte („Die Juden arbeiten gerne mit mir“). Die Analogie zum Casting für den technischen Durchlauf der Vernichtungsmaschinerie ist für Thomas Harlan Mittel, um einen Zusammenhang herzustellen, aus dem die juristisch schwer greifbare Kunst des Vaters sich nicht aus ihrer Verantwortung stehlen kann. Jud Süß war für den Sohn ein „Mordinstrument“.
Thomas Harlan war nicht das einzige Kind, auf dessen Leben die jeweils spezifische Schuld eines im Nazireich bedeutsamen Vaters lag. Niklas Frank, der Sohn des in Nürnberg zum Tode verurteilten Generalgouverneurs in Polen, Hans Frank, hat mit seinen Eltern hasserfüllt abgerechnet und damit die radikalste Position bezogen, die bei solcher Hypothek denkbar ist. Verbreiteter ist aber gerade da, wo direktes Morden sich so wenig nachweisen ließ wie allerengste Nähe zu Hitler, stilles Leid und selektive Beschönigung, wie sie anschaulich wird in Malte Ludins Film 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß von 2005 über Vatersuche durch Schwesterngespräche. Ludins Vater war Hitlers Gesandter in der Slowakei, aber den Nachgeborenen wurde er als Widerstandskämpfer erzählt. Auch Richard von Weizsäcker ist in der Darstellung seines Vaters Ernst, der Staatssekretär unter Ribbentrop war und Deportationsbefehle abgezeichnet hat, nie über den Punkt hinausgekommen, an dem der Vater nicht mehr als Gegner, sondern als Teil des verbrecherischen Systems erscheint.
Thomas Harlan enttarnt die Lebenslüge von Veit dagegen durch einen simplen wie schlagenden Gedanken, durch die Pointe eines langen, atemlosen Satzes, der die erst im letzten Jahr erschienene schmallippig-scheuklappige Entschuldigungsmonografie von Ingrid Buchloh (Veit Harlan. Goebbels’ Starregisseur) lächerlich macht: „...Du hast nichts als die Unwahrheit gesagt, deshalb schreibe ich Dir, ...weil Du gesagt hast, daß es ein Verbrechen war, den Film Jud Süß zu machen, daß Dein Erzteufel, der Minister für Volksaufklärung und Propaganda, Dich gezwungen hat, Dein Verbrechen zu begehen, ... und weil das unwahr war, weil Du Deine Frau, Kristina, über alles liebtest, mehr als jedweden Menschen auf der Welt, und sie nie gezwungen hättest, mit Dir ein Verbrechen zu begehen, deswegen schreibe ich Dir, weil Du ihr nie die Hauptrolle in dem Film Jud Süß übertragen hättest, es sei denn, Du hättest sie in ein Verbrechen verwickeln wollen ...“
Insofern bedeutet das Buch Veit eine Öffnung des immer noch starren deutschen Erinnerungsdiskurses, in dem bis heute, solange die Kinder der Nazis leben, das beschwichtigende Schweigen sich der Grenze des ambivalenten Verwickeltseins, die zwischen dem geliebten Vater und dem schuldhaften Menschen verläuft, nur von einer Seite her nähert. Veit ist das Dokument eines Verdammens und eines Liebens – und diese wechselhafte Bewegung gelingt nicht im Sinne eines abwägenden Sowohl-als-Auch, sondern als rasende Chronik der Gefühle. Und sie kann nur gelingen, weil Veit Literatur ist.
Macht der Sprache
„Mein Sohn, es kann sein, daß ich dich verstehe, auch in deinen Kämpfen gegen mich“, lautet das Eingeständnis des Vaters im Totenbett. Weiter heißt es: „Das Entscheidende an diesen Sätzen war, daß er sie erst aussprechen konnte, als sie kaum noch Sinn hatten, als er fast das Leben schon gelassen hatte und die Widersprüche nie wieder dazu nutzen können würde, alles ins rechte Lot zu rücken und für das eigene Vergehen die Worte zu finden, die wahrhaftigen, die ihm das Sterben vielleicht schwerer gemacht hätten, aber auch glücklicher. Für das Ende fehlten ihm die Worte.“
Anders als sein Vater hat Thomas Harlan für die eigene Zerrissenheit eine Sprache gefunden, eine mächtige Sprache, eine unglaublich schöne Sprache, die in die Erinnerung an den Vater dessen Geschichte (unehelicher Sohn, erste Ehe mit Dora Gerson, die in Auschwitz endet), die eigene (Eifersucht auf Kristina Söderbaum, Distanz zu den Geschwistern, Dissidenz vom bürgerlichen Leben) sowie die deutsche hineinholt wie in ein Bühnenstück.
Man hat bei Veit weniger den Eindruck, ein Buch zu lesen, als es zu hören, es ist tatsächlich mehr gesprochen als geschrieben, mit einer unversöhnten Unbedingtheit, die 2011 manchem fremd scheinen mag, die aber nur auf diese Weise zu so etwas Ähnlichem wie Versöhnung finden kann. Durch Sprache, durch Kunst, die triftiger ist als alle Wissenschaft: „Laß mich Dein Sohn sein, Dein ältester, laß mich. Dein Sohn.“
Thomas HarlanVeit Mitarbeit: J.-P. Stephan, S. Geisel. 156 S. m. Anm., Zeittafel, Fußnoten, Rowohlt 2011, 17,95 . Erscheint am 11. März. Aus diesem Anlass wird Thomas Harlans Werk bei Rowohlt neu aufgelegt.
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