Das erste Mal

Im Gespräch Das westdeutsche Bühnen-Kollektiv She She Pop sucht in „Schubladen“ Austausch mit Ost-Frauen. Lisa Lucassen und Ilia Papatheodorou über Thierse, Tabus und Topografie

Der Freitag: Als ich gelesen habe, dass She She Pop ein Stück machen, in dem sich Frauen aus Ost und West ihre Geschichten erzählen, war mein erster Ge­danke: Schaut mal auf die Uhr, wir haben 2012 und ihr macht hier den Thierse.

Lisa Lucassen: Sie meinen, einfach mit 22 Jahren Verspätung? Gut möglich, aber wir haben’s halt wirklich noch nicht gemacht. Wir lernen tatsächlich jetzt.

Ilia Papatheodorou:

Lucassen: Und das Stück endete mit einem Tagebucheintrag, eine von uns hatte zum Mauerfall notiert: „Komisch, wie wenig mich das alles interessiert.“ Jetzt, 20 Jahre später zu gucken, was die Erfahrungen aus der Zwischenzeit mit einem machen, finde ich eine ausreichend interessante Frage, um darüber einen Theaterabend zu machen.

„Wir haben es noch nicht gemacht“ ist eine schöne Formulierung für einen Auf­klärungswunsch.

Papatheodorou: Wir mussten uns eingestehen, dass wir wenig ostdeutsche Bekannte haben. Das war die erste krasse Fest­stellung, dass uns das bis dahin nicht aufgefallen war.

Lucassen: Dieses Spiel von

Ist das eher Westen?

Lucassen: Die Unverschämtheit besteht auch darin, dass ich oft gar nicht darüber nachdenke.

Warum unverschämt?

Lucassen: Vielleicht ist es auch super, ich hab’s noch nicht rausgefunden.

Ein Großteil der Menschheit hat keine ostdeutschen Bekannten, das muss nicht unbedingt ein Mangel sein.

Papatheodorou: Ich bin von Stuttgart über Gießen nach Berlin gekommen und lebe seit 1996 hier, immer in Ostbezirken. Da war diese Freiheit, die man gespürt hat, dass dieser Ort vor einem lag wie ein unbeschriebenes Blatt, dass es da so viel Raum gab, den es zu besetzen galt. Und dann stellt man fest: Ich halt mich da auf, aber eine Mischung findet nicht statt.

Produziert das Scham?

Lucassen: Bei mir überwiegt die Neugier. Aber ich hab’s bislang für unhöflich gehalten, jemanden kennenzulernen und zu sagen, du bist aus dem Osten? Das ist ja exotisch, crazy, erzähl mal! Das habe ich mich oft auch nicht getraut. Ich habe nur gemerkt, dass ich nicht in einem wiedervereinigten, sondern in einem ziemlich geteilten Land lebe. Absichtlich Leute kennenzulernen, schien mir da eine gute Methode zu sein, um Wissenslücken zu schließen.

Das ist das Tolle am Theater. Aber im echten Leben lange an einem Ort zu leben und sich nicht für dessen Geschichte zu interessieren?

Papatheodorou: Es ist nicht so, dass man sich nicht interessiert. Und außerdem assimiliert man sich.

Inwiefern?

Papatheodorou: Ich entfremde mich von dem Ort, von dem ich komme, ich fühle mich dort zu Hause, wo ich jetzt bin. Meine Kinder werden von Erzieherinnen aus dem alten Osten erzogen. Das sind Prozesse, da überlagert sich was. Offensichtlicher waren natürlich Assimilationen in die andere Richtung, von Ost nach West zu gehen, direkt nach der Wende, noch vor dem Abitur in eine Schule zu wechseln nach Westberlin, weil man gedacht hat, jetzt geht’s hier weiter, die Gewinner machen die Geschichte, ich geh’ lieber bei denen in die Schule. Wir Wessis hatten’s leichter, wir mussten nicht so stark funktionieren.

Lucassen: Und wir alle haben ein Land verloren. Wie die DDR auf einmal verschwunden ist, das kann ich bis heute nicht fassen.

Ist nicht auch die alte Bundes­republik untergegangen?

Lucassen: Ja, aber das hat sich nicht so schockhaft angefühlt.

Papatheodorou: Da muss ich widersprechen.

Lucassen: Gut, es gibt Anzeichen dafür, dass Deutschland was anderes ist als der alte Westen – die Wetterkarte in der

Papatheodorou: Für mich hat die BRD mit dem Einstieg in den Kosovo-Krieg aufgehört.

Lucassen: Aber das ist zehn Jahre später.

Papatheodorou: Da habe ich wirklich so ein Gefühl gehabt: Das ...

... hätte’s bei uns früher nicht gegeben!

Papatheodorou: Ja, mein Vater hat gesagt, unter Kohl wäre das nicht möglich gewesen. 1999 waren diese 100 Jahre Helmut Kohl für mich vorbei, da ist die Kohl-BRD zu Ende gegangen.

Sind Sie hier in Berlin häufig gefragt worden, ob Sie aus dem Osten oder dem Westen kommen?

Lucassen: Das ist mir zuletzt in den achtziger Jahren in den USA passiert.

Da stand doch die Mauer noch.

Lucassen: Die waren da nicht so schlau. Sonst hat mich das nie jemand gefragt.

Spielt dieses Herkunftsgefrage eine Rolle in

Lucassen: Ja. Und da ist auch eine gewisse Überheblichkeit, die wir qua Geburt haben, dass wir der Normalfall sind und die der Sonderfall. Merkwürdig, dass das so ist, auch wenn der Westen zahlenmäßig größer ist.

Ist das nicht logisch?

Papatheodorou: Wegen der Gewinner-Geschichte ist es logisch.

Lucassen: Aber doch nicht sympathisch! Man könnte auch denken, zwei plus eins macht irgendwas Neues. Ist aber nicht so.

Aber Sympathie hilft einem nicht, um eine Realität zu verstehen, in der es so schwer ist, fünf neue Landeshauptstädte zu kennen, oder zu wissen, dass man in Thüringen kein Sächsisch spricht.

Lucassen: Bei mir gibt’s einen riesigen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Da klafft eine riesige Lücke.

Und wie erklärt man die sich?

Papatheodorou: Siegermentalität.

Lucassen: Ja, wahrscheinlich. Ignoranz.

Die meisten Leute würden sich vor einem solch unfreundlichen Wort wie Ignoranz rechtfertigen.

Lucassen: Ich kann das natürlich auch sagen, weil ich jetzt aufgehört habe zu ignorieren. Vielleicht 20 Jahre zu spät, wenn man Herrn Thierse zurate ziehen will.

Zum Theater von She She Pop gehört andererseits, Sachen zu machen, die den meisten Leuten peinlich wären.

Papatheodorou: Das ist unser Geschäft!

Lucassen: Das wäre eine Antwort gewesen auf die erste Frage.

Weil Ihnen nichts peinlich ist, ist es auch der Thierse 2012 nicht?

Papatheodorou: Ja. Wir suchen in unseren Arbeiten nach Formen der utopischen Kommunikation. Lange Zeit mit den Zuschauern, zurzeit konzentrieren wir uns mehr darauf, gewisse Realitäten auf die Bühne zu holen und die utopische Kommunikation mit diesem Gegenüber zu suchen. Das haben wir

Lucassen: ...und schlimm ist.

Papatheodorou: Auszuprobieren, wohin man kommt, wenn man sich andere Grenzen steckt, was auf der Bühne erlaubt ist und in der Realität vielleicht tabuisiert.

Was ist denn in diesem Zusammenhang ein Tabu?

Papatheodorou: Jemanden zu fragen, ob er aus dem Osten kommt. Ich empfinde das zu­mindest als eins. Warum? Warum denke ich, dass das jemanden beleidigen könnte? Auf der Bühne gibt es die Möglichkeit, an solche Fragen ranzugehen und zu schauen, wie die Ost-Kollegin reagiert.

Inszeniert wird dann aber von She She Pop, den West-Frauen. Besteht nicht die Gefahr, dass am Ende die Siegermentalität durchschimmert?

Papatheodorou: Umso besser, wenn das passiert. Deshalb haben wir die Gegenspielerinnen auf der Bühne, die so was sichtbar machen. In der Hoffnung, dass das ein toller Moment wird, etwas ehrlich zum Vorschein kommt. She She Pop sind darin trainiert, solche Sachen groß zu machen, solche Situationen ...

Lucassen: ... herzlich willkommen zu heißen.

Papatheodorou: Weil man darin vielleicht was erkennt. Der Unterschied zwischen uns und einem Regisseur ist, dass wir sehr dis­kursiv mit den Kolleginnen sind, wir haben riesige Dramaturgie- Sitzungen. Die nehmen teil.

Ich habe gerade

Lucassen: ... ist sie genervt?

... aber in der Form noch nie.

Papatheodorou: Wir kommen immer an Punkte, wo man sagt, das hat man doch schon tausendmal gehört. Aber da kommen wir gemeinsam hin, das finde ich gut, so ignorant sind wir nicht, dass wir diese Punkte nicht erkennen würden. Wenn wir sie trotzdem reinnehmen in den Abend, dann hat’s einen Grund.

Für jemanden, der She She Pop nicht kennt – was kann man sich unter „Schubladen“ vorstellen?

Lucassen: Eine Collage, in der Beweisstücke aufeinanderprallen.

Papatheodorou: Einen mehr­stimmigen Dialog.

Lucassen: Eine große Fuge.

Und wie wird diese große Fuge erarbeitet?

Papatheodorou: Wir haben mit Briefen angefangen – sich vor dem Treffen bei der ersten Probe eine Art Brieffreundschaft zu verordnen mit je einer Ostkollegin. Wie das damals in der Schule verordnet wurde mit dem Ausland. Für die Proben hat dann jede in den Schubladen gesucht, autobiografisches Material, Tagebücher, Briefe, Literatur. Als Antwort auf die Frage, wie ich die Frau geworden bin, die ich heute bin. Und damit haben wir einen Diskurs begonnen.

Zum Beispiel?

Lucassen: Die Briefe von

Papatheodorou: ... zu collagieren mit den Listen, die Annett gemacht hat und in denen steht, was wirklich angekommen ist.

Lucassen: Da steht Aussage gegen Aussage.

Papatheodorou: Daraus haben wir Szenen gebaut.

Lucassen: Komplett durchge­skriptete Szenen und Szenen, in denen alle so viel Material haben, dass sie das reinjammen, wie’s gerade passt, um das Ganze frisch und lebendig zu halten.

Um noch mal zur Ausgangsfrage zurückzukommen. Mein Unbe­hagen an der Verspätung rührt auch daher, dass mir die Ost-West- Geschichte wie eine deutsche Selbstbeschäftigung vorkommt, die wichtig gewesen ist oder noch sein mag, die aber jetzt auch was verdrängt. Die Geschichten müssen doch weitergehen.

Papatheodorou: She She Pop gehören zu dieser speziellen Generation, die sich sehr stark mit sich selbst beschäftigt. Das ist eine Krankheit.

Lucassen: Das ist unser täglich Brot, Schatz! Lustig ist, dass wir dachten, Schubladen ist schon speziell, ob das überhaupt je­manden außerhalb von Berlin interessiert? Und dann fahren wir demnächst nach Südkorea mit unseren Vätern, und die Südkoreaner haben gefragt, was wir sonst so machen. Wir haben von Schub­laden erzählt und die waren sofort daran interessiert, weil sie denken, das handelt von ihrer Zukunft.

Könnte Taiwan auch so gehen.

Papatheodorou: Wir sind schon weiter dadurch, dass wir uns nun überhaupt diese Gegenspieler auf die Bühne holen.

Lucassen: Früher haben wir nur miteinander gesprochen. Das ist schon ein Fortschritt.

, SPD-Politiker. Der Thierse meint hier seine Aufforderung von 1990, anzufangen, uns gegenseitig unsere Lebensgeschichten zu erzählen, ein Klassiker der Einheitsrhetorik neben Willy Brandts Jetzt wächst zusammen... und Helmut Kohls blühenden Landschaften

, Uni, Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, 1982 gegründet, prägend für die Erneuerung des deutschen Theaters, Absolventen neben She She Pop sind etwa René Pollesch, Rimini Protokoll, Showcase Beat Le Mot, Stefan Pucher

, Dramaturgin, Autorin (Legende vom Glück des Menschen, 2011 bei Galiani), in Schubladen eine der Ost-Kolleginnen neben Wenke Seemann (siehe Bild oben: mit dem Schild Kaufhalle), Alexandra Lachmann, Barbara Gronau, Katharina Lorenz, Nina Tecklenburg (alle nicht im Bild)

von She She Pop. Premiere am Internationalen Frauentag im Berliner HAU 2. Weitere Aufführungen dort: 9. bis 11. März, auf Kampnagel in Hamburg: 22.bis 25.,28. und 29. März, am FFT Düsseldorf und in Wien (noch ohne festen Termin)

, die echten von den Mitgliedern von She She Pop, Bühnenpartner in Testament. Verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel nach Lear von 2010, dem Hit im bisherigen Schaffen der Gruppe, eingeladen zum Theatertreffen 2011

, siebte Ost-Kollegin (nicht im Bild), Schriftstellerin, zuletztWalpurgistag, 2011 bei DVA, Dozentin und Autorin des Freitag

, She She Pop-Mitglied neben Ilia Papatheodorou (im Bild oben: Supermarkt) Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Fanni Halmburger, Sebastian Bark und Berit Stumpf. Mit Berit Stumpf außerdem Mitglied des Perfomance-Kollektivs Gob Squad

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