Das Kind von unten

Neu im Kino Ein Darling der diesjährigen Berlinale kommt ins Kino: Ursula Meiers präzises Gesellschaftspanorama "Winterdieb" über einen Jungen, der arbeitet im Schatten der Skipisten

Der Schnee reicht nicht bis nach unten. Im Tal strahlt kein blendendes Weiss, dort regiert das dreckige Braun der Felder, das abgewaschene Grau der Ausfallstraßen, über die der Junge Simon am Ende jedes Tages seinen Plastikschlitten mit der Ausbeute zieht. Winterdieb sei ein "vertikaler Film", hat seine Schweizer Regisseurin Ursula Meier bei der Premiere auf der diesjährigen Berlinale gesagt, was dem Originaltitel L'enfant d'en haut auch anzuhören ist. Und damit nicht die Landschaft gemeint, sondern die Gesellschaft.

Simon (Kacey Mottet Klein) stammt von unten und "arbeitet" oben. Mit einem Sinn für Details und Beschwerlichkeiten begleitet Meiers Film (Kamera: Agnès Godard) ihn bei seinem Tagwerk. Simon stiehlt, er klaut Skier, Verpflegung, Brillen, Handschuhe, um daraus Geld zu machen.

Der Film entwickelt von dieser Praxis keinen kriminalistischen Begriff, er beschreibt sie eben als eine Form von Arbeit. Der Junge hat sich mit seiner mühseligen Umverteilungslogistik eine Schattenwirtschaft geschaffen, die ihm nicht Zugehörigkeit zu einem besseren Leben ermöglichen soll, sondern das Überleben. Als einmal ein Kind an einem traurigen Schneehügel im Tal um den Preis von Handschuhen feilschen will, hält Simon ihm den Skipass als Investition in sein Geschäftsmodell unter die Nase: "Weißt du, was der kostet?"

Geld für eine Nacht

Im Blick auf die ökonomischen Lebensumstände seines Protagonisten ist Meiers Film bestechend. Reibung erzeugt Winterdieb durch die emotionale Seite der Geschichte: Simon lebt gemeinsam mit seiner Schwester (Léa Seydoux). Sie liebt ihn nicht, und trägt nichts zum Unterhalt bei. In einer der dichtesten Szenen des Films bietet Simon ihr Geld, um bei ihr im Bett schlafen zu dürfen – Geld, das ihm weniger bedeutet als die Nähe, die er auch bei einer Touristenfamilie am Rand der Piste sucht; Geld, das die kindhafte Schwester nach der Nacht sofort durchbringt.

So sehr die Offenheit, nicht alles erklären zu wollen, in Ursula Meiers Erzählung einen stillen Reiz entfaltet – der Familien-Konflikt ist in Winterdieb ein wenig vage geraten. Der Ausgang bleibt folglich etwas unentschlossen, weil der weder billige Versöhnung propagieren will, noch den Jungen allein in der Trostlosigkeit der Nachsaison zurücklassen kann.

Herausragend ist die Leistung des 13-jährigen Kacey Mottet Klein, der bereits in Meiers Debüt Home (2008) mitspielte und als junger Serge Gainsbourg im französischen Biopic über den Sänger zu sehen war. Kleins ausdrucksstarkes Gesicht, seine Direktheit, vor allem die Art, wie er Posen eines erwachsenen Lebens annimmt, die ihm eigentlich zu groß, tragen den Film. Unten ist keine Zeit für Kindheit.

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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