Der deutsche Film hat ein Spießerproblem. Das ist übertrieben, aber nicht verkehrt. Nimmt man als Pole des jungen deutschen Kinos, das sich als anspruchsvoll begreift, die ästhetisch elaborierten Filme ("Berliner Schule") auf der einen und die an Unterhaltung interessierten (Hans Weingartner) auf der anderen Seite, so tut sich dazwischen ein Niemandsland des Mittelmaßes auf. Die Filme, die man dort verorten würde, sind zumeist erste, zweite, dritte Filme von Filmhochschülern, und nicht selten tragen sie komische Tiernamen in ihren Titeln. Mondkalb von Sylke Enders ist so ein Film; er steht beispielhaft für ein Kino, das auf der Suche nach sich selbst meistens nicht fündig wird.
So sehr man das Gebaren des Filmmarktes verachten muss, wo das Kino eine Ware ist, über die dann leider auch so gesprochen wird, wo also Projekte "gepitcht" werden und in einen "slot" passen müssen, wo die Finanziers sich ihren aufreizenden Zynismus von der Werbebranche abgeschaut haben ("Sag mir einen Grund, warum ich diesen Film machen sollte") - wenn man die Pressenotiz zu Mondkalb liest, hätte man diesem Film in seiner Entwicklungsphase nichts sehnlicher gewünscht als die kalte Kunstfeindlichkeit eines selbstgefälligen Geldgebers. Die Pressenotiz geht so:
"MONDKALB ist das berührende Portrait von Menschen, die in unterschiedlichen Welten leben und deren Wege sich schicksalhaft kreuzen. So unvereinbar ihre Auffassungen von Leben und Liebe zu sein scheinen, so sehr sehnen sie sich nach Nähe. Langsam öffnen sie sich einander, aber keiner von ihnen kann aus seiner Haut. Bis sie begreifen, dass sie füreinander Verantwortung übernehmen müssen."
Natürlich ist es unfair, einen Film an seinem Pressetext zu messen. Im Fall von Mondkalb ist es nun leider aber so, dass der Erklärung aus dem Presseheft auch nach Ansicht des Filmes nichts hinzuzufügen ist: Es ist schwierig zu sagen, wovon dieser Film handelt außer von Menschen, deren Wege sich schicksalhaft kreuzen und die trotzdem nicht aus ihrer Haut können.
Alex (Juliane Köhler) zieht in das Haus ihrer Großmutter in einer Kleinstadt und tritt eine Stelle bei einer Geologie-Firma an. Sie lässt eine Vergangenheit zurück, die mit dunkel recht treffend beschrieben ist (Gefängnis, gestörtes Verhältnis zur Tochter); an diesen Lichtverhältnissen ändert sich im Verlauf des Films allerdings wenig. Durch und um das Haus streunt der 12-jährige Tom (Leonard Carow). Seine Mutter hat sich das Leben genommen, weshalb er manches Mal zur Pyromanie neigt, die seinen Vater Piet (Axel Prahl), einen Fahrschullehrer und "Hobby-Ornithologen", schließlich das Auto kostet und, nach einer zünftigen Tracht Prügel, diesen wiederum den Sohn, der in eine Pflegefamilie gegeben wird.
Es gibt viele Rätsel in diesem Film, aber das größte heißt: Warum dürfen die beiden erwachsenen Protagonisten nicht zueinander finden, wo sie der Film doch offensichtlich dafür gemacht hat? Eine Antwort, die vermutlich nie erwogen wurde: Mondkalb will keine Komödie sein, auch keine intelligente, bittersüße. Mondkalb will ein anspruchsvoller Kinofilm sein, und anspruchsvolle Kinofilm sind hierzulande von tiefem Ernst und hohem Problembewusstsein (Gefängnis, Pyromanie, Gewalt, Beziehungsunfähigkeit). Dass dieser Ernst vorgenommen wirkt und den Film nicht trägt, zeigt sich an einer planen Erzählweise, die immer wieder ins Komische ausweicht. Der Witz, selbst der schlechte, ist die einfachste Form aus den Sackgassen rauszufinden, in die das Drehbuch sich manövriert hat. Die Geschichte von Alex, Piet und Tom besteht aus lauter schicksalhaften Kreuzungen (im Park, im Supermarkt, auf der Straße), bei denen wechselweise immer jemand anderes gerade schlecht drauf ist. Der schlichte Code von Mondkalb ist binär: Heute sagt sie nein zur Essenseinladung, morgen ja. Und so weiter. Das ist unoriginell, und es ist quälend, aber nicht weil das Lieben nun mal eine Qual ist, sondern weil man einfach nicht versteht, warum. Warum müssen selbst die Kolleginnen von Alex einen dauerhaft freudlosen Mob spielen? Weil Alex aus dem Westen kommt, hier aber Osten ist? Wie avanciert.
Einen weiteren Anlass, warum Mondkalb nicht berührt, liefern die Figuren, die einem alle unsympathisch sind (vor allem der Junge), bis auf Piet; als dieser erregt Axel Prahl Mitleid, weil er zum werweißwievielten Mal den lustigen Verlierer spielen soll. Die Psychologie der Charaktere ist unterentwickelt, aber für einen Film, der seine Charaktere nicht über die Psychologie erklären will, ist Mondkalb zu psychologisch. So landet der Film im Diffusen: Er betreibt Geheimniskrämerei ohne Geheimnisse.
Im Prinzip erzählt jeder Film ein und dieselbe Geschichte: Boy meets Girl. Das macht Mondkalb auch, aber auf die unattraktivste Weise. Man kann sich vorstellen, wie gefühlig der Film in Amerika geworden wäre, wie charmant in Frankreich, wie lakonisch in China - in Deutschland ist er leider langweilig geworden. Das Spießige daran ist der mangelnde Wagemut, von dem so ein Film, aber auch zahlreiche andere künden. Junge Filmemacher wie Sylke Enders könnten doch etwas wollen, aber stattdessen machen sie Filme, die wie misslungene Fernsehspiele aussehen. Bieder versteckt sich Mondkalb hinter den Klischees, die vor ihm schon andere bemüht haben, um sich erfolgreich dem Vergessen des Kinogängers anzudienen: der tiefe Ernst, die Verletzlichkeit, die Schüchternheit, die Beziehungsunfähigkeit, dass für die Witze die Schwulen (Niels Bormann) zuständig sind und der Osten eine edle Wildnis ist, in der man einen neuen Anfang macht.
Kann man das nicht einmal anders erzählen?
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