Archäologie ist ein Mutterersatz, heißt einer dieser wohlklingenden Heiner-Müller-Sätze, auf denen man endlos herumkauen könnte. Familienverhältnisse sind darin mythisiert, Freudianismus ist zur Metapher geronnen, statt endlos Gesprächsstoff und Auseinandersetzung zu motivieren. Ziemlich genau das Gegenteil von dem Projekt, an dem das Performance-Kollektiv She She Pop arbeitet. Der Gruppe geht es um die Konkretion der Mythen, die Befragung der Welt vom Nabel des peinlich eigenen, kritischen Hedonismus aus. Der, wenn man das im postdramatischen Theater sagen kann, Klassiker dieser Bemühungen war ihr Abend mit den eigenen Vätern: Testament (2011), ein Generationengespräch entlang von Shakespeares König Lear.
Mit Frühlingsopfer, uraufgeführt im Berliner HAU, kommt nun die komplementäre Inszenierung zum großen Erfolg heraus, insofern das Verhältnis zu den Müttern der Perfomerinnen im Zentrum steht. Wobei Zentrum eine irreführende Ortsangabe ist. Zum Prolog tritt Johanna Freiburg auf die Bühne, von deren Decke vier längliche Leinwände hängen, auf die die Mütter bald projiziert werden.
Rigides Setting
Sie erzählt von einer kindlichen Erfahrung – dem Besuch einer Feier mit ihrer Mutter, bei der Freiburg „um keinen Preis der Welt meine Mutter tanzen sehen wollte“. Weil diese Möglichkeit sich nicht mit der Vorstellung von der Mutter gedeckt hätte: „Und es wurde klar, dass das ein Bild einer Mutter war, die frei war, die spontan war, die mit anderen Menschen in Kontakt stand, vielleicht flirtete, und das wollte ich alles nicht.“
In den „Das wollte ich nicht“-Chor stimmen die anderen She She Pop-Mitglieder ein (Berit Stumpf, Ilia Papatheodorou und Sebastian Bark) und geben damit den Ton an: Frühlingsopfer ist ein einziges „Das wollt’ ich nicht“-Theater, der vermutlich erste Abend in der langen Geschichte des Bühnenspiels, der etwas zeigt, das er eigentlich verbergen will. Die Zweifel am Projekt sind bei einem hochselbstreflexiven Autoren-Wir, wie She She Pop es vorstellen, eingeflossen in die Aufführung. „Wir haben ein Ritual vorbereitet. Und das handelt davon, einander zu vereinnahmen, dann zu kontrollieren, dann abzustoßen und schließlich loszulassen“, erklärt Sebastian Bark die Regeln des Spiels.
Dennoch würde man Frühlingsopfer gern einmal auf die Couch legen, um dem Unterbewusstsein der Regie-Einfälle auf die Spur zu kommen. Kontrolle ist ein adäquater Begriff für die Entscheidung, die Mütter in gefilmten Clips auf die herabhängenden Leinwände zu projizieren (Video: Benjamin Krieg), wo die Väter in Testament seinerzeit auf der Bühne agieren durften. Die Distanz, in der Cornelia Bark, Heike Freiburg und Irene Papatheodorou gehalten werden, wird noch dadurch verstärkt, dass Ton und Bild getrennt sind, die Aussagen der Mütter als Voice-over über den Filmaufnahmen liegen. Wenn Heidi Stumpf als einzige spricht, während sie gefilmt wird, kann man das in dem rigiden Setting als einen Akt von Rebellion begreifen. Die körperliche Abwesenheit der Mütter wirkt nicht zuletzt deshalb so streng, weil das Theater von She She Pop immer auch den nicht-normierten (Frauen)Körper in der realen Konkurrenz zu global kursierendem Mediendesign aufgeführt hat.
Als dramatischer Text fungiert mit Igor Strawinskis Le Sacre du Printemps ein Werk, das sich nicht gemeinsam lesen lässt; vielmehr kreiert die Musik neutrales Gebiet zwischen den Territorien der Selbstbehauptung, auf dem sich gestisch begegnet werden kann. Weil die Musik nur ungekürzt gespielt werden darf, kommt der fünfteilige Abend darüber zu seiner Struktur.
Dass Strawinskis epochales Werk von einem „Jungfrauenopfer“ handelt, ist der bittere Witz der Theatergeschichte, die Frauen ein überschaubares Arsenal an Rollen zur Verfügung stellt. Wirklich etwas anfangen können mit der atavistischen Figur wohl beide Parteien nicht, auch wenn das Opfer eine Konfrontationslinie zwischen den Generationen bildet: Dem Verzicht der Mütter zugunsten der Männer – drei der vier hatten aufgehört zu arbeiten nach der Heirat – steht der Wille der Kinder gegenüber, alles zu wollen und das gleichzeitig.
Die Auseinandersetzung, die auch eine spezifisch westdeutsche ist, hat mitunter etwas Quälendes, weshalb man sich fragt, ob es nicht auch eine Utopie von Erzählung solcher Familiengeschichten gibt; etwas, das anders über Prägungen und Verletzungen spricht. In gewisser Weise ist das die Musik, weil sie den Konflikt in Bewegungen auflöst, in verabredete Handlungen mit Seil, Apfel und Fusselrolle, in Hantieren mit den eigens angefertigten Steppdeckenburkaponchos. Im zweiten Teil des Sacre wird eine Idee von Versöhnung durch telematische Überblendungen artikuliert, mittels derer die Kinder auf der Bühne in die Leinwandgesichter und -schöße der Mütter projiziert werden.
Und wenn am Premierenabend beim Applaus ein Blumenregen auf die vier Mütter niedergeht, dann kann man ahnen, welch lange Wege innige Gefühle mitunter zurücklegen müssen. Wovon man nicht reden kann, davon muss man tanzen.
Frühlingsopfer von She She Pop, Hebbel am Ufer, Termine unter hau-berlin.de
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