Die größten Feinde des Kinos sind der Sommer und Fußballweltmeisterschaften. Das dominante Bewegtbild der nächsten Zeit kommt aus dem Fernseher. Zumal der Fußball in seiner komplexen Bilderzählung sich dem Kino anschmiegt: Die hochaufgelösten Bilder überführen das Spiel in ein Drama aus Totalen, Close-ups und Superzeitlupen.
Der Fernsehfußball hat zudem ein eigenes Archiv geschaffen, und in diesem lässt sich, auf Youtube etwa, ein seit Jahren wiederkehrender, von interessierter (vielmehr: ignoranter) Seite gelärmter Hass in die Geschichte zurückverfolgen – der Vorwurf, dass deutsche Nationalspieler die Hymne nicht mitsingen.
Gemeint sind damit Özil und Boateng, Kinder aus Familien, die nicht seit dem Mittelalter hier
Mittelalter hier leben. Und die, das ist ein positiver Effekt, der AfD und ihren angeschlossenen rechtsextremen Netzwerken das „Deutschland“-Gegröle verderben. Die deutsche Mannschaft ist (wie alle anderen Teams auch) moderner, eigentlich nur: realistischer, was das Deutschland-Bild betrifft: „La Mannschaft“ ist 2018 keine weiße, homogene Gruppe, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass der Profisport eine der wenigen Domänen unserer Leistungsgesellschaft ist, in denen es wirklich um Leistung geht. Nicht nur auf dem Wohnungsmarkt würde man mit einem Namen wie Gündogan diskriminiert, während fußballerische Qualität den Umstand, dass jemand Ilkay heißt, zur Nebensache macht.Der erste Nicht-Mitsinger der jüngeren Zeit war Lukas Podolski, der im Alter von zwei Jahren mit seiner Familie aus Polen nach Deutschland kam und für den wegen dieser Zwiegespaltenheit in der Frage einer eindeutigen nationalen Verortung das schlichte Konzept Hymne aus dem 19. Jahrhundert keine Geschichte ist, die ihm etwas über seine Lebensrealität erzählt.Der ein paar Jahre ältere, ebenfalls in Polen geborene Miroslav Klose hat dagegen mitgesungen – an solchen Momenten lässt sich zum einen der grob vereinheitlichende Begriff des Zuwanderers, Fremden oder Flüchtlings ausdifferenzieren (auch da gibt es eine Vielfalt der Stile und Meinungen – wie im „richtigen“ Leben der Mehrheitsgesellschaft). Zum anderen könnte man damit aber auch eine Geschichte der Migration und ihrer wechselnden Konjunkturen schreiben – in der Einstellung verschiedener Generationen zu ihrer eigenen Geschichte und den Umständen, auf die sie in Deutschland zur jeweiligen Zeit getroffen sind (was nur zeigen würde, wie plump der sogenannte Altbundespräsident Gauck Stimmung gegen Gruppen macht).Dafür ist hier aber kein Platz, weil schon die Geschichte des Mitsingens von Nationalhymnen bei Fußball-Großereignissen in ihrer historischen Tiefe faszinierend ist. Podolski ist nämlich keineswegs der erste Nicht-Mitsinger (er ist nur der erste, über dessen unbewegte Lippen man sich dumpf-patriotisch ereifern kann). Podolski steht, wie Özil und Boateng, vielmehr in einer langen Traditionslinie von großen Namen.Eingebürgerte MusikDenn das Mitsingen der Nationalhymne ist ein eher jüngeres Phänomen (und die Hymne recht eigentlich ja schon eine interkulturelle Appropriation – die Musik hat Haydn als österreichische Kaiserhymne komponiert, die nach dem Ende der Monarchie von Reichspräsident Ebert flugs in Deutschland eingebürgert wurde).Die Weltmeisterschaftsmannschaft von 1974 schaut beim Zeremoniell noch so distanziert, wie es lange Zeit üblich war: Das Abspielen der Hymne ist etwas, das man über sich ergehen lassen muss, bevor das Spiel beginnt. Sepp Maier guckt 1974 versonnen wie Michel Platini 1986 vor dem deutschen Halbfinale gegen Frankreich gelangweilt. Letzteres ist eine besonders schöne Szene, weil die Gastgeber die Marseillaise zweistrophig vom Band laufen lassen und die Équipe Tricolore schon nach der ersten ungeduldig mit Lockerungsübungen anfängt.Das Mitsingen setzt ein in den achtziger Jahren. Damals als individueller Akt von Frohnaturen wie Guido Buchwald oder Jürgen Klinsmann (der anders als der „Kaiser“ der Erste ist, der als Spieler und Trainer mitgesungen hat). Gegen Ende des Jahrzehnts, bei der EM 1988 und vor allem der WM 1990, wird das Mitsingen fürs deutsche Team zur Pflicht. Gründe dafür sind die Nationalisierung, Emotionalisierung und vor allem Mediatisierung des Sports: 1986 in Mexiko ist die Kamera noch so weit weg von den Spielern, dass die sich gar nicht fragen müssen, ob zu Hause vor dem Bildschirm jemand ihre Lippenbewegungen kontrolliert.International ist diese Entwicklung keineswegs einheitlich – der Mitsinger-Anteil Russlands bei der EM 2008 ist auf dem Stand des deutschen Teams von 1986. Und selbst jetzt, bei der Heim-WM – ein Umstand, der vor vier Jahren in Brasilien zu einem völlig übersteigerten Hymnengebrüll des Gastgeberteams führte –, bleibt ein Routinier wie Yuri Zhirkov stumm.Er steht damit auf den Schultern der Großen des Weltsports – den Cruyffs, Rummenigges oder Platinis, in deren Gesichtern man das Selbstbewusstsein der Namhaften erkennen kann, die im Traum nicht auf die Idee kommen würden, sich durch Singen zum Affen zu machen.Das Gleiche gilt für Oliver Kahn, der 2002, als das Mitsingen im deutschen Team bereits kollektiver Standard sein sollte, sich natürlich nicht zum Chorknaben verzwergt. Das ist die gewendete Individualität, die heute die Nicht-Mitsinger performen: Ein Welttorhüter ist sein eigener Titan; der fokussiert knallhart und schaut schon bei der Hymne grimmig.Zumal das Mitsingen durch die präzisen Tonaufnahmen, die heute gemacht werden, den Spielern selten zum Vorteil gereicht (Jürgen Kohler!). Hier hat der medial clevere Philipp Lahm 2014 einen geschickten Weg zwischen Mitmachenmüssen und Selbstachtung gefunden: Er bewegt die Lippen, ist aber nicht zu hören, wenn Ton und Bild „im Glanze dieses Glücks“ bei ihm angelangt sind.