Die Führung durch das Zuckerrohrfeld in der brasilianischen Provinz ist beendet, sie hat das weiße Paar, dem sie galt, kurz entzweit: Der Mann hängt zurück, die Frau überbrückt das Warten mit Smalltalk. Die Frage nach Kindern, die der Zuckerrohrbauer stellt, wehrt sie mit erklärenden Portugiesischbrocken ab („Wir reisen viel“), was aber nur weitere Erklärungen erfordert: Es ist Krieg, wir sind Juden. „Deswegen ... fliehen.“ Dann kommt der Mann; ein Begleiter winkt das Auto herbei, man steigt ein, der Zuckerrohrbauer springt aufs Trittbrett aus Gründen, die „Separation“ hießen, um, sich am der Beifahrerseite festhaltend, ein Stück mitzufahren.
Die Frau (Aenne Schwarz) ist Charlotte Altmann, der Mann (J
er Mann (Josef Hader) ihr Gatte, Stefan Zweig, der Schriftsteller. Stefan Zweig ist kein gewöhnlicher Held für einen Film. Die Wissenschaft interessiert sich kaum für ihn, er gilt als seicht, positivistisch, ein Erbauungsliterat für den sich, ähnlich wie für Hermann Hesse, schwärmen lässt in einem Alter, in dem die Urteile über Welt, Kunst und Geschmack sich noch nicht verfestigt haben. Die Familie Mann motiviert noch heute jedes Jahr ein populärwissenschaftliches Buch über ihre dramatischen Beziehungen; über Stefan Zweig ließe sich dagegen eine Liste sattsam bösartiger Nettigkeiten pflegen („repräsentativer Schmuser der europäischen Kultur“, hat etwa Karl Kraus einmal gesagt).Vor der Morgenröte ist trotz des seminaristischen Untertitels Stefan Zweig in Amerika aber auch kein gewöhnlicher Film über einen Helden. Das zeigt schon die genüsslich-akkurate Inszenierung zu Beginn: Das Bild eines Blumenbouquets, an dem eine Hand letzte Ordnung stiftet, erweist sich nach einem Perspektivwechsel als opulenter Tischschmuck auf einer weißen Tafel. Finale Vorbereitungen, dann treten die Tischdamen ab, während die Saaldiener auf ein theatral-präzises Zeichen die Türen öffnen zum Schlusston der draußen gespielten Musik. In den Raum ergießt sich eine Gesellschaft, deren Attraktion Zweig ist.Donauwalzer unter PalmenDie Kamera (Wolfgang Thaler) wird während dieses Prologs ihren fixen Standort am Südende der Tafel nicht aufgeben und damit den Modus des Erzählens in Maria Schraders Film etablieren. Nicht im Sinne einer konzeptkunsthaften Formel, dass nur mit festen Einstellungen gearbeitet würde (die Handkamera kommt ausführlich zum Einsatz), sondern in einem Begriff von Tableau und Szene, in das Zweigs Exiljahre in Vor der Morgenröte aufgelöst werden: vier Stationen – der P.E.N.-Kongress in Buenos Aires 1936, die Zuckerrohrexkursion im Januar 1941, eine Szene in der New Yorker Wohnung wenig später, der 60. Geburtstag im November 1941 in Petrópolis –, davor ein Prolog (der Empfang), danach ein Epilog (der Freitod im Februar 1942). Darauf reduziert sich bei Maria Schrader die biografische Erzählung (Drehbuch gemeinsam mit Jan Schomburg).Und das ist das Ungewöhnliche: Vor der Morgenröte rennt seinem Protagonisten nicht in einer geschlossenen Handlung hinterher, die das Personal auf ein paar dramatische Typen reduziert und alle Umstände mit einer wikipediahaften Deutlichkeit aufsagt. Das hat, exemplarisch, Lars Kraumes Film Der Staat gegen Fritz Bauer gemacht, der dafür zum „großen Gewinner“ der Verleihung des Deutschen Filmpreises letzte Woche wurde, wie es in der Diktion der Oscar-Verleihungsbesprechung heißen würde, weil die Deutschen Filmpreise so gern Oscars wären (nebenher aber skandalöserweise noch immer Fördergelder verteilen). Dass die Deutsche Filmakademie einen Beitrag wie Vor der Morgenröte übersieht – nominiert waren lediglich Maria Schrader (Regie) und Barbara Sukowa (Nebendarstellerin) –, sagt alles über sie.Es liegt eine große Freiheit in den Bildern von Schraders Film. Die Figuren hasten nicht von einer Dialogsatzerfüllung zur nächsten dramatischen Wendung, man kann ihnen zuschauen in der Bewegung, beim Schwitzen, Reden, Lächeln. Josef Hader spielt Zweig als dünnen Mann, wie eine Membran, die eben nicht undurchlässig ist, auch wenn die Figur die dauernden Ehrerbietungen der Außenwelt pflichtbewusst entgegennimmt und die persönliche Verlorenheit dahinter zu verstecken sucht.Aus dieser Ambivalenz zieht Vor der Morgenröte seine motivisch-zarte Spannung, die den Detailreichtum der quirligen Szenen (eine solche Komparserie hat man lange nicht gesehen) zusammenhält. Hinter dem heißen, schönen, paradiesischen On der südamerikanischen Landschaft steht das Off von Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden. Zwischen offiziellen Terminen wie einem Provinzbürgermeisterempfang, auf dem die Kapelle dilettantisch gekonnt inszeniert den Donauwalzer spielt, organisieren die Zweigs – Aenne Schwarz als umsichtig-zurückhaltende Managerin – die komplizierte Logistik der Flucht von anderen. In den großen Bahnhof von Erwartungen beim P.E.N.-Kongress hinein wird Zweig geführt, bis er nach der aufrüttelnd-deutlichen Rede eines unbekannteren Kollegen (Charly Hübner), die der skrupulöse Intellektuelle so nicht hätte halten können, zurückbleibt wie ein Häufchen Scham.Das sind die dramatischen Kräfteverhältnisse, von denen Vor der Morgenröte wie beiläufig beherrscht wird. Zu Zweigs Biografie, die in dieser Lesart Verbindungen zum Nachdenken über Migration und Engagement heute herstellt, verhält sich Schraders kluger und zugleich sinnlicher Film wie der Zuckerrohrbauer (Matamba Joaquim): Er springt auf das Trittbrett des Wagens, der dieses Leben ist, um ihn auf einem markanten Stück des Weges zu begleiten.Placeholder infobox-1