Das Verhältnis zwischen Spiel- und Dokumentarfilm ist wie das zweier beinahe gleich alter Brüder, bei denen man dennoch auf den ersten Blick weiß, wer im Glanz der Erstgeburt sich sonnt. Der Dokumentarfilm darf zwar überall mit hin, er wird gleichfalls mit Preisen und Kritik bedacht und nicht wenige halten ihn für den seriöseren Zeitgenossen der beiden. Doch wenn man die Familie beim Namen nennt, also Kino sagt, dann denken alle nur an Spielfilm. Daran wird sich nichts ändern, wenn auch die Auswahl junger Filme, die auf der Berlinale als "Perspektive Deutsches Kino" präsentiert wird, zum Nachdenken über die Rollenverteilung im Kino anregt. Grob gesagt gilt nämlich: Dokumentation hui, Fiktion pfui.
Die Einfallslosigkeit der Spielfilme zeigt sich schon daran, dass Till Endemanns Das Lächeln der Tiefseefische und Robert Thalheims Netto ähnliche Geschichten erzählen. In beiden Fällen kümmert sich ein adoleszenter Junge um seinen gescheiterten Vater und ist nebenbei das erste Mal verliebt. Wenn der Sohne mit dem Vater, wobei der junge Atlas bei Endemann noch ein wenig mehr Verantwortung schultern muss (Neffen beaufsichtigen, Widersacher aus dem Feld schlagen, Fahrprüfung machen, Zigaretten schmuggeln), so dass man sich am Ende fragt, wann Malte (Jacob Matschenz) eigentlich schläft. Wo sich Endemann in blinden Aktionismus der Frage entzieht, worum es ihm in seinem Film über eine Inhaltsangabe hinaus geht, macht Robert Thalheim Witze. Das ist nicht ohne Reiz, weil es der nölend-berlinernde Sebastian Butz (Sohn) und der pantoffel-maulheldenhafte Milan Peschel (Vater) sind, die Witze machen. Aber offen bleibt, wieso sich Netto zum Vorwand für seine Gags ein Milieu ausgesucht hat - der Vater ist arbeitslos in Ostdeutschland - für dessen Wirklichkeit jedes Gespür fehlt. Zu loben ist, dass man bei Tiefseefische und Netto zumindest erkennt, worum es gehen soll. Katze im Sack hinterlässt einen dagegen derart ratlos, dass man Zuflucht beim Pressetext sucht: "Obwohl aneinander interessiert, bleiben Karl und Doris gefangen in ihren abgeklärten Rollen und keine lässt die Katze aus dem Sack." Das sieht dann so aus, dass Karl (Christoph Bach) als lonely Wölfchen durch eine Leipziger Nacht spaziert und öfter mal auf Doris (Jule Böwe) trifft, die erst in einer sexuell irgendwie besonderen Beziehung zu einem älteren Herren lebt, der in einem Bordell Überwachungskameras wartet, und die später zu wildfremden Menschen sagt: "Ich bin der Fick, von dem alle Männer träumen." Solche Ausdrücke werden häufiger gebraucht, Brüste öfter gezeigt, damit auch der letzte Verklemmte merkt, wie krass die Berufsjugend von heute so drauf ist. Leider nur sind von der Orientierungslosigkeit, in der Doris und Karl wohl stecken sollen, auch Regie und Drehbuch befallen. Man könnte sagen: Keine von beiden lässt die Katze aus dem Sack. Das Merkwürdige an jungen Spielfilmen dieser Art ist, dass sie zwar in realistischen Settings spielen, diese aber mit den klischeeverschmierten Wirklichkeiten aus Fernsehfilm und Margarinewerbung zumüllen, Wahrhaftigkeit sucht man vergebens. Hierfür empfehlen sich die Dokumentationen. In Dancing with myself portraitieren Judith Keil und Antje Kruska, die schon vor drei Jahren mit ihrem Putzfrauenfilm Der Glanz von Berlin Aufmerksamkeit fanden, drei Menschen, die lediglich verbindet, dass sie allein tanzen gehen: der schlafkranke, Liebe suchende, vielleicht etwas schnuffig wirkende Reinhard, der einsam-arbeitslose und konfliktscheue Mario, die unordentliche und isolierte Schülerin Laurin. Dancing with myself braucht eine Zeit, um zum Kern der Probleme vorzustoßen, vor denen jeder der drei Außenseiter in die grenzenlose Körperlichkeit einer durchtanzten Nacht flüchtet. Am Ende aber sind mit manchmal erschreckender Genauigkeit Bilder dreier beschädigter Leben entstanden, die der Zuschauer nicht ohne Rührung betrachtet.
Janine F. heißt die Dokumentation von Teresa Renn, die keinen Zuschauer unbeeindruckt lassen wird, auch wenn man sich angesichts der konventionellen Montage von Interviews fragt, was wohl ein Meisterspieler der Recherche-Inszenierung wie Lutz Dammbeck (Das Netz) aus einem solchen Stoff gemacht hätte. Der Stoff: Kunst, Drogen, Paranoia, Großstadt, gebündelt im Schicksal einer jungen Frau, die vor gut zwei Jahren vom Dach des Berliner Künstlerhaus Tacheles in den Freitod sprang. Der Selbstmord sorgte damals für Aufsehen, weil eine Zeitlang das Gerücht kursierte, es habe sich dabei um eine Kunstaktion gehandelt, die Janine F. auf einem Video angekündigt hätte. Am Ende des Films zeigt Teresa Renn dieses Video, das aber nur belegt, was die Gespräche mit Freunden und Bekannten ergeben haben: Die Einsamkeit einer psychisch kranken Frau, die von ihrer Umwelt unverstanden bleibt, weil der Verfolgungswahn scheinbar leicht mit Drogentrip oder Künstlertum zu verwechseln ist. Zum Zeitbild wird der Film, weil die Biographie Janines den Albtraum Berlins erzählt, in dem die Feierfreudigkeit in der deutschen Party-Hauptstadt nicht Ausdruck jugendlichen Hedonismus, sondern uferloser Verlorenheit ist. Und in dem hinter der pittoresken Kreativität der Kunsthausruine Tacheles ein zweifelhaftes soziales Miteinander sichtbar wird. Janine F. ist für das Berlin der neunziger Jahre, was "Christiane F." für das Berlin der siebziger Jahre war: die Nemesis des Zeitgeists.
Über zwei Jahre hat Bettina Braun für Was lebst du? vier muslimische Jugendliche in Köln beim Versuch des Erwachsenwerdens begleitet. Der Film erweist sich vor dem Hintergrund der aktuellen Multikulturalismus-Diskussion als Glücksfall, weil er die Normalität der zweiten, in Deutschland geborenen Migrantengeneration zeigt. Diese Normalität bedeutet Zerrissenheit zwischen dem Träumen vom schnellen Geld und der mangelnden Bereitschaft, dafür zu arbeiten; nur einer der vier beendet seine Ausbildung. Zerrissenheit zwischen der Enge der Verhältnisse - jeder der vier muss sich sein Kinderzimmer in der elterlichen Wohnung mit Geschwistern teilen - und dem Stolz darauf, der sich auch in der Hassliebe auf den Kölner Stadtbezirk zeigt, der für alle vier den Horizont des eigenen Lebens bildet. Einer, der für eine Schauspielausbildung nach Berlin wechselt, kehrt nach nur einer Woche zurück. Zerrissenheit zwischen dem übermächtigen Respekt vor dem Vater und der Nichtachtung des Gesetzbuchs, zwischen der Suche nach Anerkennung durch die Eltern und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung, zwischen der Unterscheidung von "Ausländern mit gelben Zähnen, die kein Deutsch können" und der Erfahrung, in der Schule der Ärmste gewesen zu sein. Trotz aller Paradoxien eines Lebens zwischen zwei Kulturen ist Bettina Braun ein unterhaltender, temporeicher Film gelungen, was maßgeblich an der Spielfreude und der Eloquenz der jugendlichen Protagonisten Ali, Kais, Ertan und Alban liegt.
Heiter, man könnte mit Blick auf die qualitative Differenz zwischen Dokumentation und Fiktion beinahe sagen: versöhnlich, gibt sich Jörn Hintzers und Jakob Hüfners Doku-Fiction Weltverbesserungsmaßnahmen. Mit engagierter Naivität werden Vorschläge gemacht, wie das soziale und politische Leiden von Hartz-IV-Deutschland beziehungsweise der ganzen Welt beendet werden kann. Durch den "sorbischen Euro" etwa, ein Geld mit begrenzter Haltbarkeit, das gerade deswegen zum Konsum antreibt. Oder die "Aktion 1,90 Meter", die als Ursprung allen Unglücks unterschiedliche Körpergrößen ermittelt hat und deshalb per Absatzschuhen erreichen will, dass alle Menschen sich auf Augenhöhe von eben 1,90 Meter begegnen. Oder das "Projekt neue Energie" das Sparpotential in dem Tempo menschlicher Bewegung ausgemacht hat. Wenngleich mancher Witz sich schnell erschöpft, ist Weltverbesserungsmaßnahmen ein kurzweiliges, vergnügliches Unternehmen, das wie im Vorjahr Muxmäuschenstill zeigt, wie zeitgemäß Gesellschaftskritik formuliert werden kann: durch den übermütigen Umweg der Übertreibung.
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