Eventkritik Ein Jahr lang betrieb das Festival für Experimentalmusik "Sound Exchange" Grundlagenforschung an Geräusch und Klang, nun fand es seinen Abschluss in Chemnitz
Es geht um Chemnitz und es geht um Musik, also kann man gleich zu Beginn „Kraftklub“ sagen. Dann hat man einen Begriff, den alle verstehen: Band, Rock, Indie, Rap, deutsche Texte, Karl-Marx-Stadt. Und der zugleich das Feuilleton zu den Projektionen verführt, von denen es lebt: Generation, Osten, Berlin, kreativ, Karl-Marx-Stadt.
In Chemnitz ging es am vergangenen Wochenende um Musik – und ganz entfernt hatte das sogar mit Kraftklub zu tun –, nur ist das alles nicht so leicht auf einen Begriff zu bringen. In Chemnitz erlebte am vergangenen Wochenende nämlich das Projekt „Sound Exchange“ sein Finale. Ein Jahr lang widmete es sich der „experimentellen Musik in Mittelosteuropa“ in einer Art performativen Archäologie. Lokale Musikges
20; sein Finale. Ein Jahr lang widmete es sich der „experimentellen Musik in Mittelosteuropa“ in einer Art performativen Archäologie. Lokale Musikgeschichte wurde ausgegraben, bilanziert und zugleich aufgeführt: in Krakau, Bratislava, Vilnius, Riga, Tallinn, Prag und Budapest. Chemnitz bildete nun den Schlusspunkt in Form eines Best-of von einem Jahr tönender Forschungsarbeit von – ja, von was eigentlich? Experimentalmusik wäre ein Begriff, Medienmusik ein anderer, beide sind aber so geräumig, dass die Vorstellung bei Weitem nicht so knackig ist wie bei, sagen wir, Kraftklub.Immer verschwindet etwas„Das mit den Begriffen ist immer schwierig“, sagt der Medienwissenschaftler Golo Föllmer, und weil er die Ausgangsrecherche zu dem Projekt unternommen hat, könnte man, wenn man es böse meinte, schreiben: sagt selbst der Musik- und Medienwissenschaftler Golo Föllmer, der es doch wissen müsste. Aber Föllmer spricht den Satz nicht als Kapitulation seiner Kompetenz aus; er gibt ihn eher zu bedenken. Und wenn man drüber nachdenkt, kommt man darauf, dass selbst so ein eingängiger Begriff wie Kraftklub schwierig ist, weil dahinter doch auch immer etwas verschwindet.Das Tolle am Freitagabend in Chemnitz war, dass man so etwas nachvollziehen konnte – den Weg von experimentellster Experimentalmusik zu etwas, das kommensurabel wird als Tanzmusik. Man kann sich Experimentalmusik auch als eine Art Grundlagenforschung an Geräusch und Klang erklären, deren Anwendung dann eine Musik ist, die in die Beine geht.Die Dramaturgie war klug gewählt und die je eigenen Aufführungssituationen hochinteressant. Die ersten beiden Acts, die sich beide dem ungarischen Komponisten Ernö Király widmeten, spielten in der Säulenhalle der Kunstsammlungen. Die Bestuhlung orientierte sich am klassischen, in Reihen geordneten Auf-die-Bühne-Gucken aus dem Theater, was etwas absurd war, insofern es beim Auftritt von Pal Toth (unter dem Pseudoym „en“) nichts zu sehen gab: Ein Mann steht hinter einem Laptop und schaut in ihn hinein wie ein Luftraumüberwacher oder Atomkraftwerkssicherheitskontrolleur. Dem so aufgeführten op. 120731 von Ernö konnte man sich dagegen schwer entziehen, weil die – grob gesagt – einen inneren Horrorfilm modulierende Musik umgehend die Traumwelt jedes Besuchers befeuerte, weshalb die meisten Zuhörer dem Konzert mit geschlossenen Augen folgten. Liegestühle, verteilt über den Raum, hätten da womöglich eine bessere Rezeptionshaltung ermöglicht.Das Positive Noise Trio, ebenfalls aus Ungarn, das nach dieser Augen-zu-Musik Auszüge aus dem Flora-Zyklus von Ernö spielte, hätte dagegen nicht intensiv genug beschaut werden können. Es handelte sich um Hinguckmusik erster Ordnung, hier hätte sich eine Kameraübertragung angeboten von den Tätigkeiten, die Zsolt Söres hinter den von Ernö selbst gebauten Instrumenten Citrafon und Tablofon vollführte. Im Stile eines Kochs, der Zutaten zerhackt und dem die Handgriffe eines Erste-Hilfe-Retters nicht fremd sind, bediente Söres die aus Eierschneidern, Saiten und Tasten bestehenden Gerätschaften, während Gergely Kovács sein Schlagzeug auch mal mit dem Geigenbogen strich und Gergö Kovács neben dem Saxofon den Gartenschlauch blies. Das hatte, auch wegen des keck-neunmalklugen Antlitzes von Gergö Kovács durchaus etwas von der Sendung mit der Maus, weil man so einfach lernen konnte, wie Töne gemacht werden.Treffen sich zwei GeräteWährend bei diesem Teil des Abends das Publikum tagungsähnlich sich nur aus Künstlern zusammensetzte, die gerade nicht auf der Bühne standen, gesellten sich mit dem Umzug in den Club „Weltecho“ andere Besucher hinzu. Hier konnte man der Musik dann auch dank einer Projektion auf die Leinwand beim Entstehen zuschauen, nur dass es bei Lukasz Szalankiewicz aus Polen weniger zu sehen gab als bei seinen ungarischen Kollegen: Szalankiewicz machte sich die Höchstempfindlichkeit eines Walkman-Magnetkopfs zunutze, der wunderbare Fieps und Brrrs und Krchze aussandte, sobald eine Digitalkamera oder eine elektronische Massagedecke seine Strahlungen kreuzte. Letztlich eine Form von Kommunikation: Treffen sich zwei elektronische Geräte.Den Wunsch, endlich zur Musik zu tanzen (wofür der Saal allerdings hätte entstuhlt werden müssen), weckten die Brüder Robert und Ronald Lippok, die als Ornament & Verbrechen nach über 20 Jahren wieder einmal zusammen auftraten. Von den Lippoks, die sich im Ost-Berliner Musikuntergrund einen Namen gemacht haben, führte der Abend über Frank Bretschneider, der am Ende „entspannte Musik zum Tagesausklang“ auflegte, nach Chemnitz. Bretschneider gehörte neben Jan und Ina Kummer (den Eltern zweier Kraftklub-Jungs) zur AG Geige, jener legendären dadaistisch-experimentellen Band, die half, der Stadt einen Ruf einzubringen, der heute die Verortung von Sound Exchange dort konsequent erscheinen lässt.In Carsten Gebhardts Film über AG Geige, der am Samstag gezeigt wurde, fiel übrigens der hübsche, weil sehr begriffsskeptische Satz: „Das hing außerhalb von allen Kategorien.“
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