Der Randgestalter

DVD Gerd Kroskes Dokumentarfilme über Kiezgrößen auf St. Pauli, Straßenkehrer im Leipzig nach 1989 und die Eiche an der Autobahn in einer Werkausgabe. Drei Zugänge
Ausgabe 41/2013
Der Randgestalter

Foto: absolutmedien.de

Rocko Schamoni

Toperlebnis

Ich halte Gerd Kroske für einen der besten Filmporträtisten Deutschlands. Seine Hamburger Trilogie ist ein Erweckungserlebnis über das Wunderbare im Abgrund. Zielsicher hat sich Kroske die interessantesten Gestalten der goldenen Phase des Hamburger Kiezes ausgesucht und sie hautnah aufgenommen, interviewt, beobachtet, es bleibt bei diesen Aufnahmen nichts verborgen: großes Drama und totale Komödie, anrührend und trotzdem millimetergenau – ein filmisches Toperlebnis!

Rocko Schamoni ist u.a. Entertainer, Musiker, Autor und macht aus Gold Scheiße

Volker Hummel

Selbstlose

1990, kurz nach der Wende, begleitete Gerd Kroske drei Leipziger Straßenfeger bei ihrer Arbeit. Der 28-minütige, in Schwarz-Weiß gedrehte Film Kehraus ist weniger ein Porträt seiner Protagonisten als eine lyrische Beschwörung der Nacht. Wenn es dunkel wird in Leipzig, leeren sich die Plätze und Straßen, die Parteien- und Werbeplakate an den Hauswänden werden mit kryptischeren Botschaften übertüncht, die Straßenbahnen, Laternen, Bierschänken, Schaufenster und die Leuchtreklame des Capitol-Kinos beginnen zu leuchten. Wo am Tage Helmut Kohl den Leipzigern die Teilhabe an einer schöneren Zukunft versprochen hat, kehren nun Männer und Frauen den Dreck zusammen. Drei von ihnen lässt Kroske in die Kamera sprechen: Stefan Seide, Henry Radny und Gabriele Koch. Sie werden beschäftigt als Pauschalarbeiter von der VEB Stadtwirtschaft Leipzig, Abteilung manueller Kehrbetrieb, von 18 bis 6 Uhr, 50 Mark die Nacht.

Viel ist es nicht, was man von ihnen erfährt, erste Fragmente brüchiger Biografien. Henry ist froh, dass bei der Arbeit kein Alkohol mehr zugelassen ist; Gabi erzählt von ihrer Tochter, die Pädagogik studiert, und ihrem im Heim lebenden Sohn; Stefan hatte kein Glück mit den Frauen: „Ich wollte eine, die kocht wie meine Mutter, und ich hab eine erwischt, die säuft wie mein Alter.“ Eine deutlichere Sprache sprechen die Schwenks, mit denen Kroske Kehraus, kehrein (1996) eröffnet: Von Standfotos der drei Protagonisten aus Kehraus, die diese in den Händen halten, fährt die Kamera nach oben zu ihren Gesichtern. Eine Fahrt vom Schwarz-Weiß in die Farbe, die einen größeren Abgrund als sechs Jahre zu überbrücken scheint, so viel hat sich in die Gesichter der drei eingegraben, so vieles hat sich verändert. Die Stadtwerke beschäftigen nur noch Festangestellte in orangenen Uniformen, viele der ehemaligen Kollegen sind gestorben, das Capitol ist eine Ruine, der Leipziger Hauptbahnhof eine Baustelle. Stefan, Gabi und Henry schlagen sich mit den Tücken des deutschen Sozialsystems herum, bemühen sich um ABM-Stellen und Sozialhilfe.

Kehraus, kehrein ist ein klassischer Porträtfilm, der den Protagonisten sehr nahe kommt und versucht, ihren spezifischen Erfahrungen und Gefühlen nachzuspüren. Statt den begnadeten Selbstdarstellern und -verbergern von Kroskes Hamburger Trilogie (Der Boxprinz, 1999/2000; Wollis Paradies, 2005-07; Heino Jaeger – Look before you kuck, 2012) sprechen hier Menschen, die außer auf Behördenformularen und -anträgen kaum zur Selbstauskunft aufgefordert worden sind. Eine von Gerd Kroskes großen Gaben als Dokumentarist besteht darin, dieses Sprechen zu ermöglichen und zu ermutigen. Besonders gern sucht er das Gespräch im privaten Umfeld seiner Protagonisten, in ihren Küchen und Stuben. Kroske ist ein behutsamer Frager, leise, einfühlsam, nie konfrontativ, immer dicht dran. Gerade weil seine Fragen und die Art, wie er sein Material montiert, nie auf eine bestimmte These aus sind, registrieren Kroskes Porträts viele Details, mit denen sich einer Vielzahl von Geschichten auf die Spur kommen ließe.

Anhand der Kehraus-Trilogie ließe sich etwa nicht nur die bauliche Umgestaltung Leipzigs zwischen 1990 und 2006 nachvollziehen, sondern auch eine Geschichte der Institutionen, die in DDR und BRD diejenigen verwalten, die keinen produktiven Platz im System gefunden haben: Gefängnis, Erziehungsheim, Sozialbehörde, Arbeitslosenamt, Hartz-IV-Kundencenter, Entgiftungsklinik.

Für Kehraus, wieder (2006), dem dritten Teil seiner nie als solche geplanten Langzeit-Dokumentation, änderte Kroske gezwungenermaßen noch einmal seine Vorgehensweise; einer der Hauptprotagonisten war gestorben. Stefan Seides Leichnam lag vier Monate unentdeckt in seiner Wohnung, Angehörige hatte er keine, persönliche Dokumente wurden bei ihm nicht entdeckt. Identifiziert wurde er anhand einer auf die rechte Schulter tätowierten Rose, die in Kehraus, kehrein zu sehen ist.

Zurückgeblieben sind Karteikarten, Behördenvermerke und Akteneinträge in Ordnern, auf denen „Sterbefälle zur Vernichtung“ steht. Zurückgeblieben ist auch das Schema, nach dem die angehörigenlosen Toten einer „sozialen Urnengemeinschaft“ zur letzten Ruhe gebettet werden. „Der Herr Seide liegt in der E-Reihe, in der fünften Grabstelle von links.“ Mithilfe eines Zollstocks führt die Mitarbeiterin des Südfriedhofs Leipzig den Filmemacher und seine Kamera zu einem unmarkierten Stück Rasen. Das vorletzte Bild von Gerd Kroskes Kehraus-Trilogie ist eines der Leere und Abwesenheit. Dass das Gras dem Zuschauer trotzdem etwas vermittelt, ihn stark berührt, liegt an Kroskes Fähigkeit, durch gründliches Recherchieren, Beobachten, Nachfragen und Aufzeichnen die Oberflächen der Welt in Spuren zu verwandeln – von Existenzen, über die sonst kein Zeugnis vorhanden sein würde.

Volker Hummel ist Filmkritiker in Hamburg und bloggt unter wayward-cloud.blogspot.de

Matthias Dell

Autobaum

Das Werk des 1958 in Dessau geborenen Dokumentarfilmers Gerd Kroske besteht aus Trilogien. Neben der Hamburger über legendäre Gestalten des alten St. Pauli und den Kehraus-Filmen, in denen die Euphorie des Augenblicks aus Kroskes erster Arbeit Leipzig im Herbst (1989) ihren Kater hatte, gibt es eine dritte, unerklärte.

Die drei Filme Autobahn Ost (2004), Die Stundeneiche (2006) und Schranken (2009) verbindet ein Interesse für Strukturen und Funktionsweisen, dem Kroske weitschweifig-lockerer nachgeht, als etwa Harun Farocki das tun würde. Der Autobahn-Film (der aus rechtlichen Gründen leider nicht in der Box ist) versammelt Planer und Verwalter, Architekten, Fotografen und Transportpolizisten, die anregend über den Transit reden. Oder über die „Stundeneiche“, einen Baum am Berliner Ring, dessen spätem Tod durch zu viel Verkehr Kroske in einem eigenen Film ein Denkmal setzt.

Die Verbindung zu Schranken ist die Tüftelei an Schlagbäumen, die Flüchtende aufhalten sollen. Getestet wird mit Westautos, weil der Trabant schon am Drahtzaun scheitern würde. Männer reden über ihre Arbeit und Vergangenheit, ohne dass ein Insert sie als „Täter“ oder „Opfer“ bestimmen würde. So erzählen Geschichten Geschichte. „Ich muss ehrlich von mir sagen, ich war bestimmt nicht einer der Feinsten“, ist ein Satz der Selbsterkenntnis, der nur in diesem Raum vorverurteilenden Interesses geäußert werden kann.

Gerd Kroske. Zeitzustände. Filme 1990 – 2012 5 DVD, ca. 900 Min., D, teilw. engl. UT, mit Booklet. Absolut Medien, 69,90 €

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