Der Traum von der unendlichen Geschichte

Langzeitdokument Die Chronik der "Kinder von Golzow" ist aus. Zwei Gespräche mit Dokumentarfilmern in einem – mit Karl Gass, der am Anfang steht, und Andres Veiel, der kein Ende will

Fast ein halbes Jahrhundert hat der Dokumentarfilmer Winfried Junge die "Kinder von Golzow" begleitet. "Nach einer Idee von Karl Gass", bei dem Junge seinerzeit als Dramaturg arbeitete, entstand 1961 der erste, 13 Minuten lange Film über die Schüler einer ersten Klasse im brandenburgischen Golzow: Wenn ich erst zur Schule geh. Gemeinsam mit seiner Frau Barbara setzte Junge das Projekt nach der Wende fort. Die Chronik umfasst insgesamt 20 Filme und hat eine Gesamtlaufzeit von 43 Stunden.

FREITAG: Kennen Sie Andres Veiel?

KARL GASS: Den Namen hab ich schon mal gehört, aber persönlich kenne ich ihn nicht.

Wann haben Sie Ihren ersten Golzow-Film gesehen, Herr Veiel?

ANDRES VEIEL: Nach der Wende. Seit Drehbuch: Die Zeiten habe ich fast alle gesehen.

Wie war der erste Eindruck?

Mich hat das sofort fasziniert. Die Möglichkeit, Menschen über eine so lange Zeit zu begleiten, entspricht meiner eigenen Neugierde. Irgendwann, zwischen 15 und 20, gibt es im Leben der Golzower ein Aufblühen, einen bestimmten Moment, an dem man denkt, jetzt ist alles möglich. Gleichzeitig hat das etwas Tragisches, weil die Menschen in dem Moment nicht wissen, was sie für eine Kraft sie haben. Von außen wird ihnen nur das Defizit vorgehalten: Du hast dieses und jenes noch nicht erreicht. Wie in dem letzten Film bei Gudrun. Da dauerte diese Blütezeit ein, zwei Jahre, gegen Ende der Schulzeit, wo ich fasziniert war, von ihrer Anmut, wie jemand so schön und zugleich so wenig schön sein kann. Und dann wird sie zum Prototyp eines Menschen, der die Pläne anderer erfüllt: Sie geht auf die Parteischule, und spätestens, als sie Bürgermeisterin der Nachbargemeinde wird, spinnt sie sich in einen Kokon ein von Pflichten und Notwendigkeiten. Sie entfernt sich immer weiter von sich selbst und geht einmal in der Woche ihren Vater besuchen, den LPG-Vorsitzenden, den sie mit Händedruck begrüßt wie einen befreundeten Funktionär. Wenn man das in Zusammenhang sieht mit dem Potenzial dieses Mädchens, und dabei meine ich nur die Bilder, dann hat das etwas Bitteres.

Was interessiert Sie an Biografien?

Die Brüche. Es gibt das eigene Potenzial, Wollen, Können. Das wird stark beeinflusst durch die Eltern und ihre Geschichte: Mit welchen Wünschen, Hoffnungen sind die Eltern aufgewachsen was haben sie verwirklicht, was wird an die Kinder delegiert? Und dann kommt der gesellschaftlich-historische Rahmen - welche Ideale und Werte vorgegeben, welche befolgt und welche neu justiert werden.

Der historische Rahmen wird in Golzow erst in den späten Filmen sichtbar.

Was ich sehr gut fand. Die Geschichte fängt 1961 an, bis1989 wird weder der Mauerbau erwähnt noch die Frage, was es bedeutet hat, als 1945 die Russen gekommen sind. Das wäre eine Frage, die ich Karl Gass gern gestellt hätte, inwieweit es ein Tabu war, über das historische Umfeld zu berichten.

Wie gefällt Ihnen, Karl Gass, die Vorstellung, dass Ihr Name im Vorspann der "Golzow"-Filme überlebt?

KARL GASS: Eigentlich sollte ich mehr über meine eigenen Filme bekannt sein, unter denen eine Menge sehr viel erfolgreicher sind. Das Jahr 1945 hatte in einem Jahr zwei Millionen Kinozuschauer, für DDR-Verhältnisse ganz ungewöhnlich, geradezu sensationell. Bei Golzow bin ich zufrieden darüber und stolz darauf, dass die Serie zustande gekommen ist. Dieses "Nach einer Idee von..." - das macht Winfried Junge noch immer, was ich ihm hoch anrechne.

Wie kamen Sie auf die Idee?

1961 war die Zeit reif, dass Winfried Junge, der bei mir als Dramaturg arbeitete, seinen ersten selbständigen Film machte. Ich habe damals gerade Schaut auf diese Stadt konzipiert, einen ganz scharfen Agitationsfilm. Das wollte ich ihm nicht zumuten als Jungregisseur. Meine These war: Ein junger Regisseur soll sich zu Anfang mit Affen und Kindern beschäftigen. Das hat Junge auch gemacht. Der erste Film war Affenschreck, im Leipziger Zoo gedreht, und der zweite Wenn ich erst zur Schule geh´ in Golzow.

Warum Golzow?

Ich hatte Junge einige Hinweise gegeben. Nicht Dresden, nicht Berlin, nicht Leipzig, sondern eine Gegend, die am schlimmsten heimgesucht worden war durch Krieg und Überschwemmung. Das Oderbruch. Ich habe ihm gesagt, da gehst du hin und suchst dir eine Schule aus und Schüler, mit denen du diesen Film machst. Zum zweiten Film musste ich ihn ein bisschen drängen. Vielleicht hat es ihn geschreckt, dass er sein Leben lang in dieses öde Oderbruch fahren muss und sich da immer wieder engagieren soll.

Von Ihrer Arbeit an "Der Kick" kennen Sie das brandenburgische Potzlow gut, Herr Veiel.

ANDRES VEIEL: Das ist 70 Kilometer entfernt, und ich weiß, wie stark die Traumatisierung 1945 dort war. Nicht nur in einzelnen Familien, sondern fast flächendeckend: die Angst vor Vergewaltigung, Menschen, die Kinder nach einer Vergewaltigung bekommen, ausgesetzt, verhungern haben lassen. Die Schande war so groß, dass es nicht möglich war, das zu integrieren. Die Diskrepanz zwischen offizieller Maxime, das sind jetzt die Freunde und Befreier, und dieser Traumatisierung, über die nie gesprochen wurde - das kam durch den Fokus, der bei den Golzow-Filmen gesetzt worden ist. Das war bestimmt eine politische Entscheidung, es war aber auch eine Entscheidung des Filmemachers zu sagen, wir fokussieren auf die Kinder. Die Kinder haben das nicht erlebt, und warum soll dann darüber geredet werden. Bei Gudrun und ihrem Vater kommt diese Geschichte indirekt wieder rein.

Die Physiognomien der Väter, solche Gesichter sieht man heute nicht mehr.

Die haben etwas sehr Gegerbtes, Herbes, über Gefühle wird nicht gesprochen. Man handelt, keine Larmoyanz: Wir haben viel vor, und das muss jetzt geschafft werden. Das sind Prägungen, die weiter zurückgreifen als DDR, Faschismus und Krieg. Dieses Preußische, bei dem Religion keine Rolle spielt, Weltanschauung auch nicht. Man hat seine Chance, egal welcher Herkunft man ist. Flächen mussten urbar gemacht werden und dafür war man dem König ewig verbunden und trat für ihn und das Land ein. Diese Mischung aus Scholle, Identifikation und militärischer Disziplin, dieser Pioniergeist, das kommt bei diesen Menschen durch, das sieht man bei Gudruns Vater noch.

Der steht auch für den Tatendrang der frühen DDR. Gudrun dagegen symbolisiert das Ende, wenn sie Funktionärin werden soll, obwohl sie vielleicht lieber Köchin geblieben wäre.

Es geht letztlich um eine emanzipatorische Frage: Gibt es ein Entkommen aus schwierigen Verhältnissen? Und bei Gudrun wünscht man sich das in jedem Moment des Filmes: Wenn sie Bürgermeisterin ist und einsam, diese Einsamkeit schreit einen an. Wenn sie arbeitslos ist. Das Interessante ist, dass die Arbeitslosigkeit der erste Moment der Emanzipation wird, dass sie nicht mehr mitmacht im Film. Da schafft sie es. Man kann zwar sagen, dass sie wieder konform mit dem Vater geht, der ja auch nicht mehr mitmacht. Aber zumindest spürt sie, dass dieser Film ein Dokument der eigenen Entfremdung ist. Das wäre meine Interpretation. Dass sie sagt: Egal, was jetzt in meinem Leben noch passiert, da mache ich nicht mehr mit.

Wie geht man als Filmemacher damit um?

Das hängt von der Beziehung ab. Ich weiß, dass Junge gekämpft hat um sie, aber wenn jemand "nein" sagt, muss man das akzeptieren. Ich hab immer wieder erlebt, dass für mich wichtige Protagonisten weggefallen sind, wo ich einfach den Schlüssel nicht gefunden habe zu den Menschen. Man kann niemand zwingen.

War das in der Konzeption bedacht, Herr Gass?

KARL GASS: Im Stillen habe ich damit gerechnet, dass dieser oder jener nicht mitmacht. Damit muss man leben. Die Tochter des LPG-Vorsitzenden hatte ihre Schwierigkeiten eben dadurch, dass sie die Tochter des LPG-Vorsitzenden und Mitglied der SED war. Sie hatte ja auch immer ideologische Verpflichtungen, die auf ihr lasteten. Es ist nicht einfach, wenn man sich vor der Kamera permanent und immerzu ausbreiten soll. Dass so viele auf Dauer mitgemacht haben, ist sicherlich der permanenten Ungeduld und Neugierde Winfried Junges zu verdanken - dass der immer wieder versucht hat, an die Leute heranzukommen. Das ist sein Verdienst. Manchmal redet er zuviel in den Filmen, finde ich, aber das ist nun seine Art.

Weil die Leute von sich aus so wenig sagen.

Ja. Diese Lücke hat er ausgefüllt durch eigenes Reden.

Redet er Ihnen zu viel, Herr Veiel?

ANDRES VEIEL: Bei Winfried muss man die Entwicklung sehen. Er hat seine Protagonisten kennen gelernt, da waren sie sechs, Kinder. Und ein bisschen sind sie das immer geblieben. Trotz Emanzipation, Abgrenzung und "Wir sind jetzt erwachsen, bitteschön".

Ein DDR-Verhältnis: Der Staat und seine Menschen, das war wie in der Schule.

Das glaube ich nicht. Wenn ich mit Sechsjährigen angefangen hätte bei den Spielwütigen, dann wären das für mich auch meine Kinder. Ich habe das in den "nur" sieben Jahren Drehzeit erlebt. Wenn ich am Anfang gesagt hätte, mach doch mal einen Handstand, hätten sie das gemacht. Nach drei Jahren hätten sie gefragt, was soll denn das jetzt, und nach fünf Jahren hätten sie gesagt, nein. Diese Art von Ebenbürtigkeit ist ein schwieriger Prozess. Als Regisseur will man natürlich, dass die Protagonisten das machen, was man sich vorstellt.

Verdankt sich die Emanzipation, und damit die Größe des Projekts, nicht der Wende?

Es gibt dadurch eine interessante Verschiebung. Bis 1989 wird über Politik nicht gesprochen. Prag 1968, Biermann 1976, natürlich kein Thema, vielleicht ist das in Golzow generell kein Thema gewesen. Und dann der Bruch: Plötzlich redet man über Politik, weil es sich unmittelbar auswirkt auf das Leben oder weil man darüber reden kann. Gleichzeitig wird es mühselig. Wie bei einer Operation, wo Winfried mit allerlei Gerätschaften ein paar Satzmuster herausschneidet aus den Menschen. Das Politische wird verbunden mit Scheitern, Verbitterung, Alleingelassen-Fühlen von einem Staat, der vorher eine gewisse Uterus-Funktion hatte. Dieser Uterus ist aufgeschnitten, man fällt aus der Fruchtblase heraus und Winfried dokumentiert das. Das ist für viele sehr schmerzhaft, deshalb bekommt das Private immer weniger Platz.

Das Golzow-Projekt hat drei Abschnitte: die frühen Gruppenfilme, die Einzelportraits und nun die Reste, die abgebrochenen, fragmentarischen Geschichten.

Ich fand die Distanz wichtig, mit der noch einmal auf Golzow geschaut wird, auf die bisherigen Entwicklungen mit der ehemaligen LPG, mit dem neuen Chef Großkopf, Nachfolger von Gudruns Vater. Dass die Geschichte nicht so linear verläuft, dass sie nicht aufhört mit dem Verlust der Fruchtblase und dem Alleingelassensein, sondern dass sie Wege hinaus zeigt. Deswegen ist der letzte Film für mich großartig. An den Leerstellen reibt sich der Film an sich selbst. Und dass er das tut, ist die große Qualität von Junge. Weil das zu Gesprächen führt wie dem unseren.

Ist das Fragmentarische der eigentliche Reiz? Die Menschen beim Leben überwachen kann das Fernsehen heute viel besser.

Bei einem Big-Brother-Format ist das Casting Teil der Dramaturgie. Da werden Leute genommen, aus denen alles scheinbar offen herauskommt. Die Golzower sind nicht gecastet worden. Sie waren in einer Klasse. Man hat es mit Menschen zu tun, für die Sprache nicht das erste Medium ist.

In den "Golzow"-Filmen sieht man Menschen, die man im Fernsehen nicht kennen lernt.

Man muss sich anders einlassen, das ist eine große Qualität. Am Anfang weiß ich manchmal noch nicht, wozu ich den Protagonisten begegnet bin in ihrer Sprödigkeit, in ihrer Nicht-Gewandtheit. Man muss sie entdecken und das braucht Zeit. Irgendwann kommt auf einer längeren Strecke die Belohnung.

Welche Länge hatten Sie für die Beobachtung ursprünglich angedacht, Herr Gass?

KARL GASS: Ich hatte Junge gesagt: Du fängst an mit einer Klasse, die zur Schule geht und verfolgst die, bis deren Kinder wieder zur Schule gehen.

Fragt Winfried Junge Sie noch um Rat?

Er ist schon bald zu unserem Studio nach Berlin gewechselt, wo er wohnte. Aber er kam immer noch zu mir - vor der Wende, später nicht mehr - und hat mir den Rohschnitt gezeigt. Er wollte meine Meinung hören, ich habe ich ihm ein paar Ratschläge gegeben, wir haben auch noch was geändert. Insofern war ich irgendwie noch beteiligt an den Filmen.

So schade es ist, die Abschlussfilme haben etwas Beruhigendes. Es würde sonst nie enden.

ANDRES VEIEL: Da muss ich sofort widersprechen. Ich finde es sehr bedauerlich, dass Winfried Junge aufhört. Gut, er ist über 70. Aber Golzow ist ein Schatz, der mit jedem Jahr, das weiter dran gearbeitet wird, noch wertvoller wird. Mein Blick ist der Generationenblick, beim Kick habe ich im Buch verstärkt versucht, das deutlich zu machen: Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel. Insofern gäbe es für mich überhaupt keinen Grund aufzuhören. Im Gegenteil. Ich habe Winfried Junge immer gesagt, er solle weiter machen. Zumindest solange, bis er seine Kronprinzen gefunden hat, die das Erbe verantwortungsvoll fortführen.

Eine Erzählung, die zu Golzow gehört, handelt von dem Geld, das immer knapper wird.

Ich bin da immer noch verhalten optimistisch. Wenn man das gezielt angeht, wird es weiterhin Leute geben, die sehen, dass man da eine Art Weltkulturerbe betreibt. Das nicht weiterzuführen, wäre fatal.

Dann ist der Traum des Dokumentaristen tatsächlich die ...

... die unendliche Geschichte. Der Traum des Dokumentaristen ist die unendliche Geschichte.

Die Filme Die Geschichte der Kinder von Golzow von Winfried und Barbara Junge ist abgeschlossen. Zumindest wird ab dieser Woche in Berlin der zweite, fast fünf Stunden lange Teil des Schlusskapitels gezeigt: ...dann leben sie noch heute, der im Folgenden auf Festivals und in Programmkinos zu sehen sein wird. Alle anderen Filme von 1961 an sind auf 16 DVDs und 3 Boxen verteilt bei Absolut Medien erschienen. Die Edition von ...dann leben sie noch heute ist für den Spätherbst 2008 geplant.

Karl Gass, geboren 1917 in Mannheim, 1948 Übersiedlung in den sowjetischen Sektor von Berlin, Leiter des DEFA-Studios für populärwissenschaftliche Filme, später eigene Gruppe. Moderator der Quizsendung Sind Sie sicher?, Filme (Auswahl): Asse (1966), Zwei Tage im August (1982), Nationalität: Deutsch (1990). Bücher zur Geschichte Preußens.

Andres Veiel, geboren 1959 in Stuttgart, Studium in West-Berlin. Filme (Auswahl): Black Box BRD (2001). In Die Spielwütigen (2004) begleitete er vier junge Menschen durch die Schauspielschule. Der Kick (2006) rekonstruiert multimedial die Umstände des Mordes an einem 16-Jährigen in Potzlow. Zuletzt das Buch: 1968. Bildspur eines Jahres (mit Gerd Koenen).

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