Wer ist Ludwig Schönherr? Marc Siegel, freier Kurator und Filmwissenschaftler, sagt, dass es einen wie ihn im deutschen Experimentalfilm bisher nicht gegeben hat: einen Künstler, der das Fernsehen als Bildermaschine begreift und darüber nach klaren Vorgaben Filme macht, indem er diese Bilder abfilmt, zerlegt und neu zusammenstellt – mit den begrenzten Möglichkeiten der Super8-Technik: stumm, Einzelbild, Kameraschnitt. Das Besondere an Schönherr sei, sagt Siegel, dass er sich nicht einordnen ließe, dass der, der seine ganz eigene Ordnung der Bilder angelegt hat, sich den Ordnungen der Wissenschaft und der Experimentalfilmgeschichte verweigert.
Einmal konnte man bisher öffentlich von Schönherr Notiz nehmen. Bei der letzten Berlinale ha
rlinale haben Stefanie Schulte-Strathaus vom Berliner Filmkunstkino Arsenal, die für die Experimentalfilmreihe des Forums verantwortlich ist, und Siegel, der den Schwerpunkt kuratiert hat, Filme von Ludwig Schönherr gezeigt. Es war das erste Mal in Schönherrs Leben.Schönherr ist aber nicht nur Filmer, er ist auch bildender Künstler: Beim ersten Besuch in seiner Wohnung waren die beiden Kuratoren von der Anordnung an der Wohnzimmerwand so begeistert, dass sie eine kleine Ausstellung während der Berlinale organisiert haben. Eine Collage, lauter Uhren, dazwischen Fotos, Notizen. Zeit als Objekt und Konzept.Beatrice CorduaMan kann die Frage, wer Ludwig Schönherr ist, frelich auch ganz anders beantworten: Er ist zuerst der Mann der Tänzerin Beatrice Cordua. Cordua war unter John Neumeier in Hamburg Erste Solistin und später bei Kresnik an der Berliner Volksbühne. Wer das Paar in seiner Neuköllner Wohnung, die voll ist mit Filmdosen, Fotokartons und Uhren, besucht, erlebt die beiden auf beglückende Weise: Es gibt über das Leben von Schönherr nicht selten zwei Versionen, und damit erledigt sich die Idee, dass das, was bislang keiner über Schönherr wusste, sich einfach so aufschreiben ließe von A bis Z.Nein, das Leben des Künstlers Ludwig Schönherr verwandelt sich beim Erzählen selbst in Kunst, wird zu einer Geschichte, wie sie Thomas Bernhard gefallen hätte; wiederkehrende Motive, der Ton ist trocken, die Verzweiflung ernst, aber durch ihre Übertreibungen und verblüffenden Eingeständnisse auch heiter. Eine Künstlergeschichte, die nicht romantisch ist, nicht von Inspiration, Erfolg und Stil handelt, sondern von Unsicherheit, Geld, dem Nicht-Glücken.Geboren wurde Ludwig Schönherr vor dem Zweiten Weltkrieg in Nordhausen. Die Familie, Schönherr hat eine Schwester und einen Bruder, zog nach Helgoland, der Vater arbeitete bei der Marine und kam im Krieg ums Leben. Die Mutter und die drei Kinder wurden 1945 evakuiert. 1946 nahm die Mutter sich das Leben, die Schwester wuchs bei einer Tante auf, Schönherr und sein Bruder bei einem Bauern. Später begann er eine Rechtspflegerlaufbahn.Die AnfängeSchönherr: Diese Beamten waren engstirnig, kleinkariert und dachten schon mit 20 Jahren nur an ihre Pension. Das hat mich so angeödet, dass ich da weggegangen bin. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen, ich kann’s mir noch lebhaft vorstellen, weil ich’s miterlebt habe. Es war auch so düster, irgendwie eine Schreckenszeit.Cordua: Dieses Deutschland damals war so erschreckend.Er: Besonders die fünfziger Jahre. Man darf nicht vergessen, die hatten den Krieg verloren gehabt.Sie: Das hat man als Kind nicht gesehen. Ich habe immer nur in der U-Bahn gesessen und gedacht, was sind das nur für schreckliche Einheitstypen. Deshalb freue ich mich heute noch wie wahnsinnig über die Verschiedenartigkeit der Leute, die ich treffe. Wenn man früher nach New York oder nach London kam, hat man sich so gefreut, und dass das jetzt hier auch so ist, das ist ein Segen.Er: Das kann sich heute auch niemand mehr vorstellen, aber wenn man in eine Kneipe kam, dann wurde nur über den Krieg rumgetönt und welchen Spaß es gemacht hat, den Russen mit den Seitengewehren die Bäuche aufzuschlitzen.Sie: Oder auf ihnen zu rodeln.Er: Das war einfach so, das ist unvorstellbar, dass es das gegeben hat.Es folgen Umzüge. Immer wieder Umzüge.Er: Das war in der Untermieterzeit. Früher hatte man keine eigene Wohnung als junger Mann, man war Untermieter jahrelang, jahrzehntelang. Heute haben alle eigene Wohnungen, schon die 17-Jährigen haben eigene Wohnungen. Das war damals nicht der Fall, es gab auch wenig Wohnungen. Frauen vermieten meistens. Sie: In Berlin hast du bei Frauen gewohnt.Er: Nur bei Frauen, das war ja immer bei Frauen komischerweise, älteren Frauen. Sie: Verrückten Frauen.Er: Ja, die eine, die Musikerwitwe, war ein bisschen verrückt, das stimmt. Die hat Briefe an sämtliche Minister und den Bundeskanzler geschrieben und sich beschwert, wie unwürdig sie in Berlin in ihrer Riesenwohnung wohnte, dabei war’s toll dort. Sie wohnte in einer großen Berliner Mietwohnung und hatte vier UntermieterSie: Lustig.Er: Ja, das war sehr lustig. Ich bin mit der auch einmal umgezogen, denn die flog immer raus aus ihren Wohnungen. Sie hatte einen Hund, den hat sie aber nie ausgeführt. Der Hund hat sich immer in der Wohnung entleert, was ekelhaft war. Nur in ihren Räumen, nicht in den Untermieterräumen. Und dann flog sie nach einer Zeit immer raus, weil die Nachbarn dahinter kamen.Sie: Und wo bist du dann hingezogen? Er: Na, wieder in die Untermiete.Sie: Du warst doch auch mal kurz in Italien?Er: Da war ich so eine Art Tourist.Das Credo Schönherr, für den ein Vormund die berufliche Laufbahn entscheiden sollte, findet zur Kunst. Wie eigentlich?Er: Weil wir uns dafür interessierten, mein Bruder und ich.Sie: Ihr habt euch ganz früh für Literatur interessiert, alleine, ohne irgendeinen Antrieb. Du hast mir immer vorgelesen, die russische Literatur, die französische Literatur, mich hat er gebildet als junges Mädchen. Du bist auch immer allein ins Theater gegangen, schon als junger Mann. Das ist selten für Leute, die keine Anleitung haben.Er: Nein. Es hat mich einfach interessiert. Ich hab die ganzen russischen Autoren gelesen, Dostojewski, Puschkin, Tolstoj. Es gab damals diese billigen rororo-Ausgaben, die Bücher kosteten 2 DM oder so. Das habe ich alles verschlungen. Den größten Eindruck haben auf mich die Russen gemacht. Die Bücher habe ich leider nicht mehr.Sie: Das waren die Umzüge.Er: Da geht viel kaputt, da verschwindet viel bei Umzügen. Sie: Für ihn ist das von Nachteil. Er kann ja nichts loslassen. In München bewirbt sich Ludwig Schönherr vergeblich an der Kunsthochschule. Er macht Gelegenheitsarbeiten. Beatrice Cordua, die er Ende der fünfziger Jahre kennengelernt hat, heiratet er 1963. Das Paar zieht nach Köln, wo sie ein Engagement hat. Es folgen zwei, besser gesagt zweieinhalb Entschlüsse.Sie: Wir haben mal ein Stück gemacht in Hamburg: „Keine Möbel, keine Kinder, lieber Selbstmord“ (lacht). Das war unser Credo, da waren alle immer ganz entsetzt.Er: Ist es immer noch.Sie: Ja, jetzt haben wir nur Sachen, die nicht als Möbel zu bezeichnen sind. Es war so: Ich hätte gern Kinder gehabt und er nicht. Weil er sagte, das geht in unserem Leben nicht. Ich musste arbeiten, ich habe sie geliebt, meine Arbeit.Er: Tänzer müssen schuften bis zum Geht-nicht-Mehr.Sie: Das ist schwierig mit Kindern.Er: Mit Kindern ist es fast unmöglich, diesen Beruf auszuüben.Sie: Natürlich, jede Frau ist traurig, wenn sie nicht schwanger war, dieses Gefühl von schwanger hätte ich gern mal gehabt. Aber keine Kinder zu haben, empfinde ich jetzt fast als Segen, obwohl ich Kinder sehr gern habe. Wir hätten so nicht leben können.Er: Wir hätten die gar nicht ernähren können.Sie: Als wir angefangen haben, hat er noch gearbeitet in Köln. Dann habe ich gesagt, als ich gemerkt habe, dass er sich schwer tut: Jetzt hörst du auf und ich mach’. Das war keine Großzügigkeit, das war für mich normal, weil ich finde, die Bühnenkünstler sind die reichen Künstler.Er: Das ist so.Sie: Die Bühnenkünstler sind auch die schickeren Künstler, die haben ihre festen Engagements.Er: Sie sind auch die einzigen, die Geld verdienen.Sie: Ich habe ihn so wichtig genommen wie mich selber auch. Das war manchmal nicht ganz leicht im Zusammenleben, weil er auch gerne etwas gemacht hätte, wo er Geld verdient hätte.Die Fotoserien Ludwig Schönherr kann also Künstler sein. Geld spielt eine wichtige Rolle, weil es den Rahmen absteckt, in dem er sich bewegen kann. 1966 kauft er eine gebrauchte Super8-Kamera, Yashica, mit der er fortan arbeitet. Das heißt: Fernsehen abfilmen, abfotografieren.Er: Damals war ich der Meinung, dass das Fernsehbild ein interessanteres Leben zeigt als das wirkliche Leben draußen. Dieser Meinung bin ich heute nicht mehr.Sie: Visuell war’s interessant, eine gefilterte Realität. Und da war immer so eine gewisse Dynamik drin; die Dynamik dieser Bilder, die ist toll.Er: Visuell interessant waren alle Sendungen über Kriege, so schrecklich Kriege auch sind, aber visuell sind die interessant, es ist einfach so. Ich habe auch Sendungen über Popmusik aufgenommen, weil da immer so interessante Girlies rumhampelten.Sie: Ich mag das gern, dass er auch andere Frauen schön findet.Er: Die Tagesschau habe ich auch aufgenommen. Zu den Fotos kam es, als ich darüber nachgedacht hatte, das stand damals in den Zeitungen, wie viele Stunden täglich der Fernsehzuschauer guckt. Das haben so Institute wie das von der Noelle-Neumann herausgefunden. In Deutschland guckten die Leute immer vier Stunden und 20 Minuten. Das hat mich interessiert. Ich habe überlegt: Wenn die vier Stunden und 20 Minuten gucken, wie viele Einzelbilder müssen die dann aufnehmen. Das ist natürlich schwierig, wenn ein Film läuft, den in Einzelbildern festzuhalten. Ich hatte einen Zähler, einen Drücker.Sie: Das ist subjektiv.Er: Natürlich, sehr subjektiv, das macht aber auch nichts, wie kann ich auch objektiv sein? Ich bin also immer danach gegangen, wenn sich eine Szene verändert oder ein neuer Schnitt kommt, und das habe ich dann eingetippt.Sie: Du hast Fotoserien gemacht.Er: Das war billiger als Film, ich habe diese Jahresarbeit gemacht, die ich „Bilderinflation“ genannt habe. Ich habe das aufgeschrieben, wie viele Bilder der Zuschauer in einem Jahr in sich reinfrisst. Das habe ich dann dem Paik erzählt, den ich später kennen gelernt habe, Nam June Paik, den Videomann Nr. 1. Der war der einzige, den das überhaupt interessiert hat.Es fehlt das Vertrauen in den Künstler.Er: Weil ich praktisch mein Leben lang erfolglos war, hatte ich kein Zutrauen zu sagen, ich bin Künstler oder ich bin Filmer. Das widerstrebte mir irgendwie. Jemand, der erfolgreich ist, der gibt natürlich gerne zu, dass er das ist, was er macht. Bei mir war’s das ganze Leben lang komisch.Sie: Was macht der eigentlich, fragten die Leute immer.Er: Neulich hat eine Bekannte von dir gesagt, sie sei immer der Meinung gewesen, ich mache Filme, aber sie hat ja nie einen Film gesehen. Sie hat geglaubt, das war alles Spinnerei, keiner hat geglaubt, dass ich überhaupt was mache. Nur Paik war von mir überzeugt. Und Dieter Roth. Es ist schwer zu sagen, was vorher da war: die Nichtbeachtung oder Schönherrs Brass auf die Arrivierten, die wussten, wie sie an die Fördertöpfe kommen (Noch ein Credo: „Keine Kolloboration mit der Hamburger Kulturfolklore!“). Einmal hat er Geld bekommen, 24.000 DM vom Hamburger Filmbüro für einen 16mm-Film in den achtziger Jahren, Das unbekannte Hamburg, eine repetitive Erkundung von urbanen Strukturen, die normalerweise übersehen werden, Autobahnzubringer, Rollfelder, Brachen. Die eigene Scheu näherten vor allem die Zweifel am Material.Er: Diese ganzen Super8-Filme. Ich hoffe, dass das jemand mal irgendwann versteht, das sind Arbeitsfilme, die ich für mich gemacht habe, damit ich die Ideen nicht vergesse. Die waren eigentlich nie zur öffentlichen Vorführung bestimmtSie: Ich kann das verstehen. Er hat so eine Wut auf Super8, weil wir nie Geld für andere Formate hatten.Er: Die Super8-Filme habe ich nur gemacht, damit ich die Ideen nicht vergesse. Die sind nur für mich bestimmt gewesen.Sie: Jetzt sind sie raus.Er: Ich bin überredet worden, und dann habe ich gesagt, okay, dann machen wir das. Sie: Nun bist du auch zufrieden.Er: Nein, bin ich nicht. Das hat mich mein Leben lang geärgert, dass das so unscharfe Bilder sind. Den Super8-Filmer habe ich vor 25 Jahren in mir getötet, und ich bin froh, dass ich mit Super8 nichts mehr zu tun habe. Ich habe mich immer so über meine Filme geärgert, über die miese Qualität. Mein Traum war immer, dass ich (lacht) irgendwann mal Geld für 35mm-Filme bekomme. Die Hoffnung hatte ich damals, das hat sich dann nie bestätigt. Mit der Berlinale-Reihe im Februar ist der Anfang von Schönherrs Entdeckung gemacht. Das Arsenal ist gerade dabei, das Werk zu sichten, die Filme sollen verfügbar sein, eine Publikation erstellt werden.
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