Das Überraschende, anders, das Unabdingbare im Kempinski Grand Hotel Heiligendamm zeigt sich daran, dass wir begrüßt werden wie ein alter Bekannter. Der Name, auf den das Zimmer vorbestellt ist, tönt vertraut aus dem Munde des Rezeptionisten. Interessanterweise gaukelt einem das Hotel die Geschäftigkeit vor, der man gerade hierher entfliehen wollte. Die hoteleigene Zeitung, ein gefaltetes A3-Blatt mit dem Titel Postillion, wird überreicht, dazu eine Karte, auf der steht, dass Herr Martin H. Kolb, geschäftsführender Direktor des Hauses "sich freuen würde", uns "um 18 Uhr zu einem Cocktailempfang auf der Baltic Bar Terrasse begrüßen zu dürfen." Auf dem Schreibtisch in Zimmer liegen schließlich noch einige Briefe, von denen einer für eine Beteiligung an der "Kunst, bleibende Werte zu schaffen, zu erhalten und zu mehreren" wirbt.
Der Rezeptionist begleitet uns in schmuckem Anzug und mit ausgewählter Höflichkeit nach oben. Der Reiz dieser Höflichkeit liegt darin, die Fülle der Informationen so zügig zu vermitteln, dass dem Gast nichts vorenthalten bleibt, ohne dass er die Möglichkeit hätte, sich zu langweilen. Unser Zimmer liegt im dritten Stock des Haus Grand Hotel, Classic, King-Size-Bett, Marmorbad, Dusche und Wanne, 30 qm, Seeblick. Der kostet 85 Euro extra, ist aber diese 85 Euro unbedingt wert: vor uns nur das satte Grün des gestutzten Rasens, die Seebrücke, das Meer. Der Rezeptionist weist auf den Wlan-Anschluss hin, der von der Wand direkt in den Schreibtisch führt, öffnet den Schrank, in dem sich Fernseher, DVD-Player und Minibar befinden, und führt die in die Nachttischschublade eingebauten Lichtschalter vor. Dann verabschiedet sich der Rezeptionist, während wir noch überlegen, ob jetzt nicht ein Trinkgeld angebracht wäre, wie es in vielen Hollywoodfilmen üblich ist.
Leider sind wir zu unerfahren in den Feinheiten der Luxushotellebens. Das Fenster, das sich nur nach außen öffnen lässt, was beim ersten Öffnen zwangsläufig zu einem kurz eingeklemmten Finger führt, ist sicherlich kein Ruhmesblatt des Kempinski Grand Hotels in Heiligendamm. Wie aber verhält es sich mit den blankgeputzten Knäufen der Dusche, in denen der Gast sich spiegelt, wenn er auf dem Klo sitzt? Ist das ein raumausstatterisches Waterloo, weil doch die wenigsten Menschen, wenn sie auf dem Klo sitzen, vorteilhaft aussehen, oder doch eher vernachlässigenswert, da kleinkariert? Kritik oder gar Beschwerde scheint uns, wie wir da so auf dem Klo sitzen, überhaupt ein zwiespältiges Unterfangen in einem Hotel, das sich mit dem Gast kraft seiner Exklusivität ja von vornherein gegen die schnöde Welt da draußen verbündet. Außerdem eignet der Beschwerde etwas Kleinbürgerliches. Sie ist die Selbstgerechtigkeit des ewig geknechteten Pauschaltouristen, der im Moment, da er vor seiner Bettenburg nicht des verheißenen Meeres, sondern nur der Baustelle für eine weitere Bettenburg ansichtig wird, endlich den lang ersehnten Grund hat, sich vom Leben beleidigt zu fühlen. Aber hier? Schön nach Heiligendamm fahren und dann übers Essen maulen? Das scheint uns abwegig, und wir verstehen, dass in höherklassigen Hotels die Form der Kritik auch irgendwie verfeinert werden muss. Also entweder so rockstarmäßig die Zimmereinrichtung auf links ziehen, wenn man sich von den Chinoiserien ästhetisch beleidigt fühlt. Oder sich in ein noch exklusiveres Diventum flüchten, das wir einmal in einer Fernsehsendung bei Michel Friedman beobachten durften, der im Nobelrestaurant grundsätzlich nichts von der Karte aß, sondern immer gleich in die Küche marschierte, um die Köche dort anzuherrschen: "Und machen sie Frau Elsner was Schönes", wobei er drohend-genießerisch mit der Zunge schnalzte. Während wir entscheiden, weder den Rockstar noch Michel Friedman zu geben, wir verspüren auch keinen Grund zur Unzufriedenheit, spülen wir und begeben uns auf einen kleinen Rundgang.
In Richtung Warnemünde halten wir Ausschau nach dem Zaun, verlieren aber schnell die Lust, da am Horizont unseres Wahrnehmung nichts zu sehen ist. Wir finden den Zaun am nächsten Morgen nach 20 Minuten Fußmarsch in Richtung Kühlungsborn. Etwas stutzig macht uns - man kriegt eben den Pauschaltouristen nicht raus - dass gleich neben dem herausgeputzten Haus Grand Hotel eine ganze Reihe unsanierter, ja, verfallener Häuser steht, die wir in diesem Zustand eher in Anklam erwartet hätten. Da fällt es dann doch schwer zu glauben, dass der internationale Jet-Set für solche Tristesse aus dem wahren Leben des deutschen Ostens Verständnis aufbringt. Leider hat unser Spaziergang etwas zu lang gedauert, so haben wir die Begrüßung durch Martin H. Kolb verpasst. Wir trösten uns mit dem Besuch der Bibliothek in der Burg Hohenzollern. Sie nimmt für sich ein mit dem Text: "Mal wieder in Ruhe ein gutes Buch lesen: Einen Klassiker wie Goethes Faust. Oder eine aufregende Biographie über Romy Schneider." Kennen wir beides, denken wir uns, da der Blick etwa über Biographien von Henry Kissinger und Dieter Hildebrandt streift, ein paar Kröner-Ausgaben von antiken Philosophen und die Tucholsky-Werkausgabe von Volk und Welt. Nach dem Abendessen, einem Saunabesuch und einem Bier in der Nelson Bar lassen wir uns vom eigens gerufenen "Housekeeping" das Zimmer für die Nacht herrichten. Diesmal schaffen wir es mit dem Trinkgeld. Zum Einschlafen schauen wir - in der Bibliothek konnten wir uns nur für eine Musik-CD entscheiden - noch etwas fern. Und da kommt dann endlich einmal der Zaun vor, was irgendwie absurd ist: Man sitzt im Kempinski Grand Hotel Heiligendamm und sieht im Fernsehen das Kempinski Grand Hotel Heiligendamm.
Diese Medialisierung unseres Aufenhalts verfolgt uns auch am nächsten Morgen beim Frühstück. In der Tageszeitung, die in einer extra schmalen Plastiktüte ("Mit den besten Empfehlungen der Hotelleitung") an der Zimmertür hing, neben der unsere zwischen 2 und 7 Uhr vom Sand gereinigten Schuhe stehen, lesen wir einen Bericht über Kurt Schwarz. Kurt Schwarz war früher einmal DDR-Nationaltrainer der Sportschützen und wird während des G 8-Gipfels als Wildhüter in Erscheinung treten. Er kennt Heiligendamm seit 1973. Kurt Schwarz, wie er da so erzählt, kommt uns irgendwie possierlich vor. Er symbolisiert die Welt da draußen, den Gegenpol, ohne den keine Selbstverortung gelingt. "Einmal", wird Kurt Schwarz zitiert, "war ich auch privat im Kempinski. In der kleinen Baltic-Bar. Zum Eisessen. Zehn Euro. Ist schon teuer. Aber das Eis hat wirklich geschmeckt! Herrlich! Das mit dem Bezahlen war ganz kompliziert. Und mit dem Trinkgeld. Ich musste mich erst mal bei der Kellnerin erkundigen, wie das funktioniert mit dem Trinkgeld."
Wir wollen nicht leugnen, dass auch in uns ein Stück Kurt Schwarz steckt, Stichwort Trinkgeld. Wir haben uns auch kurz gefragt, ob ein Wasser, das sich nicht wesentlich vom Wasser in den Supermärkten da draußen unterscheidet, unbedingt 6,50 Euro kosten muss oder ob nicht 5 Euro zur Distinktion schon ausreichend wären. Aber irgendwann begreift man, dass die Welt der Grand Hotels im Grunde eine reale Utopie ist. Alle Angestellten sind so unangestrengt freundlich, sie grüßen aufmerksam, aber nicht aufdringlich, wenn man ihnen auf dem Gelände begegnet, durch das man sich mit einer weißen Chipkarte mühelos bewegt. Man wird nicht scheel angeschaut, nur weil man ohne Krawatte und nicht im Anzug zum Abendessen erscheint. Und Geld spielt keine Rolle, weil alle es haben. Wer hier zu Gast ist, zählt nicht die Wasser, die er bestellt, sondern lässt sie auf sein Zimmer schreiben. Die einzigen Nachtteile dieser paradiesischen Zustände sind, dass sie nur im eingezäunten Terrain von Heiligendamm existieren und nicht auch in Anklam, und dass es immer Leute geben muss, die als Angestellte fungieren.
Zum utopischen Gehalt von Heiligendamm gehört, dass man mit den Angestellten recht zwanglos ins Gespräch kommen kann, wenn man möchte. Das ältere Ehepaar am Nebentisch unterhält sich munter mit der allein erziehenden Kellnerin des Frühstücksbüfetts. Das dient zweifellos der Schichten übergreifenden Verständigung. Nachdem die Kellnerin von ihrem Sohn erzählt hat, der in den Kindergarten geht, während sie hier arbeitet, sinniert der ältere Herr: "Kindergarten, das ist doch was, wovon jetzt immer die Rede ist." Das Problem der Kinderversorgung scheint ihm nach dem Plausch um vieles klarer, als 20 "Christiansen"-Sendungen es machen könnten. "Als berufstätige Mutter braucht man einen Kindergarten. Oder keine Kinder."
Mittags, das haben wir dem Postillion entnommen, steht eine Hausführung auf dem Programm. Eine blonde Frau leitet eine Gruppe von zehn Menschen durch die verschiedenen Häuser der Anlage ("Die Zimmer im Severin-Palais erkennen Sie an den Severin-Spiegeln"). Nachteile werden nicht verschwiegen (zu wenig Stauraum für die Garderobe bei längeren Aufenthalten im Haus Mecklenburg), und erstaunlicherweise wird auch über Preise gesprochen. Das gibt der Tour etwas Butterfahrthaftes, wie überhaupt unsere Vorstellung von Diskretion dadurch getrübt wird, dass man sich in dem Hotel, in dem man wohnt, andere Zimmer anschaut. Solche Programme hätten wir für eine Domäne des Pauschaltourismus gehalten.
Der Rundgang endet bei Freiherr von Schleinitz. Sein Vortrag über die Geschichte Heiligendamms muss eindeutig als Höhepunkt unseres Aufenthaltes gelten. Freiherr von Schleinitz stammt aus der Gegend ("Bis ich elf Jahre alt war, habe ich in Mecklenburg gelebt, und ich kann Ihnen sagen: Es war das Paradies") und hat sein Arbeitsleben in der internationalen Hotellerie verbracht, was seiner Credibility, wie es unter Rap-Musikern heißt, zuträglich ist. Seine Zeitreise beginnt er nicht 1793, als das erste deutsche Seebad in Heiligendamm errichtet wurde, sondern bei Christianisierung und Siedlungsgeschichte des umliegenden Raumes ("Flachbauten, Lehmhäuser, reetgedeckt - ärmlich"). Rasch wird klar, dass Freiherr von Schleinitz ein Mann ist, der sich allein dem Schönen verpflichtet fühlt. Zu einem Bild, auf dem Hitler und Mussolini in einer stolzen Karosse in Heiligendamm posieren, sagt er: "Das Foto zeige ich ihnen nicht wegen der beiden Banausen da hinten, sondern wegen des Maybach. Da geht einem das Herz auf." Banausen gab es auch in der DDR, die sich im Vortrag Freiherr von Schleinitzens vor allem mit dem Namen Honeckers verbinden. Der habe 1960 die Türme von der Burg Hohenzollern abtragen und 1966 die Marienkirche in Wismar sprengen lassen.
Dass Freiherr von Schleinitz sich im Vortrag nicht als sturer Dogmatiker welcher Ideologie auch immer geriert, wird erkennbar, als die Rede auf den ersten Kempinski-Grand-Hotel-Direktor Thomas Klippstein kommt, den einige der Anwesenden offenbar noch kannten und den "eine traurige Geschichte belastet", weshalb er sofort nach Bekanntwerden seiner IM-Tätigkeit für die Stasi "das Land verlassen hat". Freiherr von Schleinitz warnt vor schnellen Urteilen über einen, der als 26-Jähriger einen Fehler begangen hat und den er als Hoteldirektor außerordentlich zu schätzen gelernt habe.
Kritische Fragen werden auch thematisiert. So wird unumwunden zugegeben, dass dem Hotel der defekte Spa-Bereich nach der Eröffnung schwer geschadet hat. "Das hat uns getroffen." Bei der Frage der unsanierten Strandvillen, gegen deren Abriss denkmalschützerische Argumente ins Feld geführt werden, wird zu bedenken gegeben, dass nach dem Krieg in buntem Durcheinander aufgebaut wurde. Einen zu sanierenden Originalzustand gibt es also gar nicht mehr, was für den interessierten Zuhörer ein wenig im Widerspruch zu der freudigen Bemerkung stehen mag, dass die Pläne für die sanierten Häuser allesamt erhalten waren. Nicht viel Gutes hat Freiherr von Schleinitz für die Presse übrig, die ja kaum zu bremsen sei und etwa das mit Super-Teleobjektiv aufgenommene Bild vom Zaun, bei dem im Hintergrund das Haus Mecklenburg zu sehen ist - Freiherr von Schleinitz spricht von "Fotomontage" -, wieder und wieder gedruckt hat.
Seinen mit Witz garnierten Vortrag - ein Bild von dem entkernten und eingeplanten Haus Grand Hotel versieht er mit dem Hinweis, dass es sich nicht um ein Kunstwerk von "Jean-Claude Christi" handele - schließt Freiherr von Schleinitz nicht zufällig mit dem Wort "Lebensqualität". Zu der gehört freilich auch der reiche Kulturraum, in dem Heiligendamm liegt, und den Freiherr von Schleinitz Namen nennend und durchaus gravitätisch durchmisst. Ernst Moritz Arndt, Caspar David Friedrich, Ernst Barlach, Fritz Reuter, Christa Wolf. Und auch "Heinz Fallada, dessen Bücher Sie kennen, auch wenn Sie sie nicht gelesen haben: Kleiner Mann - was nun? Wer einmal aus dem Blechnapf frisst."
Am Rande ("Aber das ist nicht der Grund dieser Veranstaltung") erwähnt auch Freiherr von Schleinitz das Geld, von dessen Zwängen wir uns hier frei glaubten. Beteiligungen seien ab 25.000 Euro möglich, bei Interesse könne man sich gern an ihn wenden. Durch Rufumleitung sei er eigentlich fast immer erreichbar.
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