Was ist zu viel Zeit? Ist eine gute Frage und der Name eines Tracks des Hamburger Musikers DJ Koze. Eine Antwort gibt der Regisseur und Schauspieler Sebastian Schipper mit seinem Film Victoria, der aus einer einzigen Einstellung besteht – 140 Minuten lang. Film ist die Kunst der Montage, folglich droht ein Film, der auf den Schnitt als ordnendes Prinzip freiwillig verzichtet, mit Unordnung. Zu viel Zeit sind im Kino also 140 Minuten, in denen nicht geschnitten werden kann, weil es dann keine Pause gibt (es sei denn, die Protagonisten legten sich schlafen wie in Andy Warhols Experimentalfilm Sleep), weil dann in diesen 140 Minuten all das passieren muss, was in Filmen sonst auch passiert: Dramaturgie. Auf und Ab. Einführung, Entwicklung, Höhepunkt, Schluss.
Wenn der Schnitt a
ss.Wenn der Schnitt als Zeit strukturierendes Mittel wegfällt, dann tritt bei Schipper die Musik an seine Stelle. Victoria empfängt sein Publikum im Club, zur Musik von DJ Koze, mit Blick in die Stroboskop-Effekte von Disko, was nichts für empfindliche Gemüter ist. Die Kamera von Sturla Brandth Grøvlen findet die titelgebende junge Frau, die tanzt, dann geht und auf eine Gruppe von vier Berliner Jungs trifft, sich verwickeln lässt, in Gespräche, Tändeleien, Drinks, und schließlich mit den Jungs auf einem Dach landet, auf dem, absurderweise, geflüstert werden muss. Das ist die Exposition von Victoria, und sie wird markiert durch die Musik des Pianisten Nils Frahm, die sich allmählich über die Gespräche legt im Hausflur, im Fahrstuhl, auf dem Weg nach oben. Diese Exposition ist ziemlich umwerfend, weil sie vorführt, worin der Gewinn besteht von Schippers Konzept: Es verschafft dem Spiel und der Geschichte freien Raum.Die Annäherung zwischen Victoria und Sonne, dem Anführer der Jungs, lässt sich nicht in Schuss und Gegenschuss von Blicken auflösen, wenn nur eine Kamera durch den Film führt. Die Annäherung findet im Raum statt, irgendwo dahinten, am Ausgang vom Club, auf dem Weg der Frau, die wie die Geschichte heißt; sie ergibt sich als zufälliges Hängenbleiben im Moment der Begegnung. Und sie ist dadurch anders motiviert, als würde der Schnitt einen Drehbucheinfall ranschaffen, einen Charakter mit dem anderen verbinden. Die Annäherung muss sich erklären und darf dann nicht mehr aufhören mit dem Reden, weil sonst die Geschichte zu Ende wäre.Sonne hat RaumAlso redet der Film, redet Sonne ohne Unterlass. Schippers Film ist groß darin, dieses Sprechen zu inszenieren, und Frederick Lau spielt mit Sonne, einem Berliner Ganoven, die Rolle seines Lebens – er ist auf diese Typen abonniert, die mal stulliger, mal aggressiver, oder, wie hier, mal liebenswürdiger sind, denen aber häufig nur der Platz bleibt, den ein Klischee ausfüllen kann. Sonne hat in Victoria dagegen Raum für alle Kleinigkeiten: das Aufschneiderische, Angetrunkene, das im angetrunkenen Zustand ständig Kippe und Bierflasche Haltende, das Flirtende, das mangelhaft trotzdem drauflosplappernde Englisch. „I’m just tsinking.“In seinem ersten Teil löst der Film das Versprechen ein, das das Konzept Echtzeit verspricht. Victoria holt Gegenwart in seinen aufgezeichneten Stream im Zeitalter von Periscope, das Berlin um 2015 im Grenzbereich zwischen repräsentativer Mitte und gerade entdecktem Sozialwohnungskreuzberg, das Berlin der jungen Migranten aus dem krisenhaften EU-Süden wie der von Laia Costa gespielten Spanierin Victoria, die ihr Geld in einem Café verdient.Sebastian Schippers Konzept der einen Einstellung taugt über den Effekt hinaus, den solch eine Entscheidung macht (zum Beispiel: dass man dauernd auf Richtigkeit achtet), und Victoria ist dabei womöglich konsequenter als der „gefakete“ One-Shot-Film Birdman von Alejandro González Iñárritu kürzlich. Es geht um das Jetzt, das Live, die Partikularwahrnehmung. Auch wenn Schippers Film sich in seinem Fortgang öfter ins Kino flüchtet vor dem Leben, das er in der Echtzeit gesucht hat.Das sind die unvermeidlichen Konzessionen ans Konzept: Ein tragischer Banküberfall als Handlungsbeschleuniger (dem auch, da kommt die Erzählung ein wenig aus dem Tritt, ziemlich viel Drehbuchinformation vorausgeht), und die Skrupel der eigentlich doch unschuldigen, bürgerlichen Frau kassiert die laufende Kamera. Wie überhaupt Victoria eine blasse Figur bleibt, das Ja zum gewalttätigen Grenzübertritt nur motiviert durch das Hingezogensein zu Sonne und das Gefängnis der klassischen Musik, aus dem sie nach Jahren des Verzichts ausbrechen muss. Victoria ist ein Jungsfilm (neben Lau spielen Burak Yiğit, Franz Rogowski und Max Mauff), so wie Schippers bislang bekanntester, Absolute Giganten von 1999, einer war. Ein äußerst sentimentaler.Die Frau, die den Namen des Films trägt, ist hier nur das Medium der Träume, die Männer wie Sebastian Schipper, als sie jung waren, im Kino hatten – Clyde zu sein und eine Frau zu haben wie Faye Dunaways Bonnie. So gesehen erzählt Victoria vom Sieg (sic) des Kinos über das Leben. Der Thriller, zu dem Sebastian Schippers Film immer mal wieder wird, handelt vom Versuch der Außenseiterin, in das Drinnen der Gemeinschaft zu kommen (die hier Berlin heißt), und wenn dieser Versuch scheitert, die Frau entschwinden kann, weil sie niemand kennt, dann ist es wie im Kino, wenn das Licht angeht: als wäre es nie gewesen.Spezifisch deutsch ist daran der Einsatz klassischer Musik, die Victorias Hintergrund ausmacht und die Nils Frahm melancholisch variiert, und die als Echo von Bürgerlichkeit vor dem Exzess schützt.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.