Die Geschichte ist präsent

Oscar-Verleihung Falsche Umschläge, vergebene Ekstase: eine politische Panne
Ausgabe 09/2017
Es ist nicht leicht, das Politische in diesem Moment zu erkennen
Es ist nicht leicht, das Politische in diesem Moment zu erkennen

Bild: Kevin Winter/Getty Images

Die einhellige Meinung über die diesjährige Oscar-Verleihung lautet: Der Abend war weniger politisch als erhofft. Das stimmt, wenn man die Vorstellung von „politisch“ auf Reden gegen Trump und Statements für das respektvolle Miteinander reduziert. Tatsächlich könnte man nämlich auch sagen: Der Abend hätte politischer nicht sein können, und zwar gerade in seiner finalen Pointe, dem falschen Umschlag bei der Verkündung in der Kategorie Bester Film.

Es ist nur nicht leicht, das Politische in diesem Moment zu erkennen, weil „politisch“ hier etwas meint, das so offensichtlich, immer da und unangenehm ist, dass wir es am liebsten übersehen. Und es ist auch nicht leicht, darüber zu schreiben, weil man sich – gerade in medial selbstgebastelten Zeiten – in Bereiche begibt, die nach Verschwörungstheorien klingen; weil man auf der einen Seite an unangenehmen Gefühlen rührt und folglich Abwehr produziert („Man kann’s auch übertreiben“), und weil man auf der anderen Seite wieder eine Zurücksetzung reklamiert, wieder eine Form von Opfertum assoziiert, wo doch niemand als Opfer durchs Leben gehen möchte, schon gar nicht Gewinner.

Um zu verstehen, was das Politische an der Tatsache ist, dass bei der Verkündung des Gewinners in der wichtigsten Kategorie zuerst ein falscher Name vorgelesen wurde, hilft es vielleicht zurückzutreten. Dann ist das Bild, um das es geht – und nur darum, nicht um Absichten oder Schuldige –, besser zu erkennen. Etwa in Raoul Pecks dokumentarischem Essayfilm über und mit dem Schriftsteller James Baldwin (1924 – 1987), der auf der Berlinale zu sehen war und Ende März in die Kinos kommt.

In I’m Not Your Negro ist alles verständlich, Krassheit springt einen an. Man sieht, gleich zu Beginn, Baldwin in einer Talkshow sitzen, wie er sich rechtfertigen muss, wie der weiße Moderator nur Fragen stellt und Baldwin sich erklären soll, sein Engagement, seine Kritik, letztlich: seine Hautfarbe.

Später, am Ende des Films, kommt ein weißer Professor hinzu und sagt als Erstes, dass das doch alles übertrieben ist, dass man nicht immer auf die Unterschiede gucken solle; wir sind alle Menschen. Und dann kann man, weil der Film einem etwas nähergebracht hat und das alles lange her ist, verstehen, dass dieser Satz nichts hilft, eine Abwehrreaktion ist. Sagen kann ihn, wer die Unterschiede nicht wahrnehmen muss, weil er unter ihnen nicht leidet.

Ein schöner Satz von Baldwin lautet, dass Geschichte nicht Vergangenheit sei: „History is literally present in all that we do.“ Und also ist die Geschichte auch präsent bei der Oscar-Verleihung 2017, bei der nach der Kritik der letzten Jahre (#oscarssowhite) diesmal vielmehr diversity herrschte, Veränderungen auf der repräsentativen Ebene, an der Bildindustrien arbeiten, sichtbar wurden. Mahershala Ali (Moonlight) und Viola Davis (Fences) etwa wurden als beste supporting actors ausgezeichnet, wobei man sich fragen kann, wer die weibliche Hauptrolle in Fences spielt, wenn nicht Davis.

Und mit Moonlight gewinnt ein Film, der, anders als 12 Years a Slave vor drei Jahren, nicht einen berühmten weißen Schauspieler als Produzenten als Erstentgegennehmer und -dankwortsprecher auf die Bühne schickt (sondern den unbekannten Barry Jenkins) und der eine afroamerikanische Geschichte erzählt, die nicht auf die Erniedrigung durch Weiße bezogen ist – aber dann wird dieser Moment getrübt durch etwas, das nicht passieren kann, darf, wird, aber genau in diesem Moment geschieht. „La La Land“, liest Faye Dunaway von der falschen Karte ab, und die Ekstase, auf die die Prozedur mit den Umschlägen hinwirkt, geht an den anderen Film. Und die Gewinner erhalten den Preis aus den Händen derer, denen er nicht gebührt, und weil das großzügig und sympathisch ist, sieht es aus wie Verzicht. Was es nicht ist.

Was es ist, wird man nicht herausfinden können: ein Streich des Unterbewusstseins? Bittere Ironie? Zu allem Überfluss zeigt absurderweise Donald Trump am nächsten Tag das erste Mal menschliche Regungen und sagt in seiner reduzierten Kindersprache über die Oscar-Nacht: Am Ende sei es „traurig“ gewesen.

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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