Den Anfang vom Ende macht der Gutsverwalter, der in das Haus vom Baron kommt, in dem die Gattin des Barons und der Baron gerade miteinander streiten. Er müsse den Baron kurz sprechen, sagt der Gutsverwalter, und der Baron fragt, ob es wirklich wichtig sei, worauf der Gutsverwalter erwidert, andernfalls würde er nicht stören. Bis zu diesem Zeitpunkt ist in dem Film Das weiße Band einiges passiert, was solche Dringlichkeit gerechtfertigt hätte: der Reitunfall des Arztes, der tödliche Arbeitsunfall der Frau eines Kleinbauern, die geschnittenen Kohlköpfe, der im Sägewerk eingesperrte Sohn des Barons, die brennende Scheune, der Freitod des Kleinbauern, die geklaute Flöte des Sohns vom Baron. Die Nachricht aber, die der Gutsverwalter dem Baron überbringt, ist zur Abwechslung keine exklusive Meldung in der Dorfchronik: In Sarajewo ist der österreichische Thronfolger erschossen worden. Es ist Sommer 1914, und jeder weiß, was das bedeutet.
Der Krieg kommt immer von außen in die Filme von Michael Haneke. In Wolfszeit (2003) hat Haneke eine westeuropäische Wohlstandsfamilie in ein Endzeit-Szenario geworfen, das sich vage dem Jugoslawien-Krieg zurechnen ließ. In Caché (2005) lag unter der erpressten Erinnerung des Protagonisten, eines Pariser Literaturkritikers, das Trauma eines Massakers an Algeriern in Paris. Die Nachricht vom Krieg trifft die Akteure in Das weiße Band nun in gewisser Weise unvorbereitet: Haneke hat keinen Geschichtsfilm der Art gedreht, dass auf den Ausbruch des Weltkriegs gezielt würde. Im Gegenteil, man könnte Das weiße Band der historischen Ungenauigkeit zeihen, wenn sich in einem Film über ein Dorf ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg nicht ein Hinweis auf die Lage findet: kein Hackenschlagen eines übermütigen Burschen, kein großmännisches Grübeln beim Baron.
Mit der historischen Genauigkeit ist es eine faszinierende Sache. Der Imperativ zum scheinbar minutiösen Wiederaufbau, den das Marketing dem deutschen Geschichtsfilm (Der Untergang) beigegeben hat, gilt hier nicht. Dabei ist Hanekes erster Film, den man als Historienfilm bezeichnen kann (genauso gut freilich als Literaturverfilmung), exakt und fantasievoll zugleich: Am prätentiösen Reden des Pfarrers (Burghart Klaußner) etwa wird die Entfernung zum Heute kenntlich. Der Film gibt Einblicke in eine vergangene Welt, ohne dass er es darauf anlegt, Memory mit ihr zu spielen. Die Ausstattung (Christoph Kanter, Anja Müller, Heike Wolf, Moidele Bickel) ist, exemplarisch im Haus des Barons, von einer beiläufigen Reichhaltigkeit, die glaubhaft fernen Alltag vermittelt, weil sie nicht jedes Stufenknarzen als Ergebnis langwieriger Rekonstruktionsbemühungen ausstellt.
Zauberhafte Scham
Bei den Handlungen äußert sich der feine Sinn, den Haneke für Geschichte hat, in Alltagspraktiken: Der Lehrer und Ich-Erzähler (Christian Friedel) begegnet auf der Dorfstraße dem Kindermädchen Eva (Leonie Benesch), das auf dem geliehenen Rad wackelnd erste Fahrversuche unternimmt, um übers Wochenende zu den Eltern ein paar Dörfer weiter zu gelangen. Das Wackeln zeugt von Fremdheit, die fast erwachsene Frauen dem Fahrrad gegenüber haben konnten, solange es kein Spielgerät war, sondern allein notwendig zur Fortbewegung. Gespielt wird die Begegnung von Leonie Benesch mit zauberhaftester Scham. In ihrem gedrängten Lachen, ihrem unruhigen, Blickkontakt vermeidenden Wegschauen stecken sowohl das Geniertsein eines Mädchens, das weiß, dass es unsittlich enden könnte, von älteren Herren angesprochen zu werden, als auch die frivole Freude darüber, dass dieser es tut. Beneschs überzeugendes Spiel ist keine Einzelleistung in dem Ensemblefilm: So souverän Hanekes kühle Inszenierung in schwarzweißen Bildern die Vergangenheit beschreibt, so mühelos integriert sie in diesem Film von handwerklicher Perfektion große Namen in die Reihen der Darsteller. Mitunter in kleinen Rollen – und das Beispiel dafür ist nicht einmal Birgit Minichmayr, die zwei, drei Auftritte hat als Tochter des Kleinbauern, sondern die für die Verhältnisse von Ulrich Tukur ungemein unmanierierte Darstellung des Barons durch eben Ulrich Tukur.
Das weiße Band erscheint nicht nur ob seines erzählerischen Gewichts als Summe von Hanekes Werk. Wie in 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1994), der frühen Spekulation über den metaphysischen Zusammenhang von Sinn und Leben, reiht der Film Ereignisse aneinander, die erst durch die Off-Stimme des erkennbar älter gewordenen Lehrers zweifach gebrochen zu einer Erzählung werden – vielleicht haben aber der Reitunfall des Arztes und die Misshandlung des Sohns der Hebamme nichts miteinander zu tun. Wie in Caché funktioniert die Verdichtung erzählerischer Indizien kriminalistisch, ohne dass die Ermittlungen eines Täters, eines Adressaten für Schuld habhaft würden.
Offensichtliche Lüge
Wie in Bennys Video (und wie in eigentlich fast allen Haneke-Filmen) spielen Kinder eine besondere Rolle: Im Untertitel heißt der Film Eine deutsche Kindergeschichte, und obwohl die Kinder, schon spielzeitbedingt, die sind, die am wenigsten zu sagen haben, werden sie bei Haneke immer wieder zu Akteuren der Handlung; etwa wenn der jüngste Sohn des Pfarrers dem Vater einen Vogel schenkt als Ersatz für dessen geliebten Wellensittich, den die älteste Tochter wiederum aus Rache für die Hartherzigkeit des Vaters massakriert hat.
Es geht in Das weiße Band, wie so oft bei Haneke, um Gewalt und Schuld, projiziert auf eine Gesellschaft, die sich gegen moralische Vergiftung durch religiöse Reinheit scheinbar schützt. Die Gewalterfahrung der Kinder wird, anders als in Bennys Video, nicht medial gemacht, sondern real – und als Gegenreaktion in der hierarchisch organisierten Gesellschaft bleibt nur die Lüge, die sich keine Mühe gibt, nicht als solche erkannt zu werden. Die offensichtliche Lüge erscheint als Resultat bigotter Machtausübung (wenn der Pfarrer seine Kinder schlägt, dann im Auftrag eines höheren Gesetzes): Sie tut, weil sie nicht die Wahrheit sagt, als halte sie sich an die Regeln, und rebelliert dagegen, indem sie gar nicht Wahrheit sein will. Baron, Pfarrer und Arzt (Rainer Bock) bilden die Trinität der Macht in dem Dorf, mit deren Zeit zumindest der Kriegsausbruch Schluss macht.
Man kann Hanekes Film vorwerfen, dass er am Ende zu vage bleibt, übersieht dann aber, dass Das weiße Band zuerst nicht mehr ist als das Sittenbild einer sterbenden Epoche – die Kirche bleibt in den letzten Bildern tatsächlich im Dorf, aus dem der Erzähler sich entfernt –, in dem Funktion und Ästhetik von Gewalt dargestellt werden. Und das nicht mehr Bedeutung gewinnt, indem es sich erklärt: Anregender als die Überlegung, dass diese Kinder mit diesen Erfahrungen erwachsen waren, als der deutsche Faschismus begann, ist die Frage, wo Schuld anfängt. Anders gesagt: Was geschah vor dem Reitunfall des Arztes? Sind nicht die Jüngsten, der Sohn des Pfarrers und der des Arztes die, durch deren Augen man den Film sehen muss?
Das weiße Band ist ein Gesellschaftsporträt, das vom Krieg gerahmt wird: Der Aufbruch ins Schlachtfeld ist hier das Ende von etwas. „So schnell stürzt die Welt nicht zusammen“, sagen verschiedene Menschen in diesem Film. Das genau tut die Welt.
Das weiße Band Regie: Michael Haneke, ab 15. Oktober bundesweit in den Kinos
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