An einer Stelle ihrer Verzweiflung sagt die gerade 50-jährige Alice Howland, bei der eine erbliche Form von Alzheimer diagnostiziert worden ist: „Ich wünschte, ich hätte Krebs.“ Das ist fast ein philosophischer Moment, den zu diskutieren sich der Film Still Alice aber scheut – wohl auch, um nicht in einen Utilitarismus abzudriften, der knallhart Nutzen und Nachteil jeder Krankheit gegeneinanderrechnen würde: Warum wäre die unheilbare Krankheit, die den Körper betrifft, „besser“ als die, die den Geist auslöscht? Man dringt so schnell in die Bereiche vor, in denen früher Gott gewohnt hat.
Dahin will Still Alice nie so richtig, obwohl zu den interessantesten Geschichten, die der Film erzählt, seine Gegenwartsbeschreibung gehört: Alzheimer kommt hier in eine wohlständig-westliche Familie aus beruflich erfolgreicher Sprachwissenschaftlerin-Mutter (die von Julianne Moore gespielte Alice) und beruflich erfolgreichem Arzt-Vater (Alec Baldwin) mit beruflich erfolgreichen Kindern (Hunter Parrish, Kate Bosworth) – bis auf eines (Kristen Stewart), Lydia. Die ist unterengagierte Schauspielerin in Los Angeles, was aber, und darin ist das Milieu genau getroffen, keine gravierenden Konsequenzen für den Lebensstil hat, weil genug Geld der Eltern da ist, um rührige Off-Theater-Gruppen zu unterstützen, in denen Lydia dann spielt.
Zur geschmackvollen New Yorker Academia mit Wochenendhaus am Wasser, die die Howlands repräsentieren, zählt in Still Alice der bewundernswert schlanke und feste Julianne-Moore-Körper (Alec Baldwin wäre in diesem Sinne knapp vor der Fehlbesetzung), der einmal in zeitgemäßem Joggingoutfit besonders eindrucksvoll inszeniert wird – auch wenn es in der Szene vordergründig darum geht, als weiteren Schritt in die Krankheit kurzzeitige Orientierungslosigkeit anzuführen.
In einem Umfeld, in dem die finanziellen Ressourcen so groß sind, das Bewusstsein von Distinktion so weit ausrationalisiert und der Arbeit am Selbst moderne technische Mittel zur Verfügung stehen, muss das Unbeeinflussbare, für das die tödliche Krankheit steht, besonders große Verzweiflung auslösen. Zumal der Gang in die Kirche für eine derart selbstbestimmte Familie höchstens kulturelles Ornament wäre, nicht aber reale Zuflucht vor Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Warum ich? Warum so früh?
Zeitversetzter Freitod
Als einziger Ausweg bliebe folglich der selbst gewählte Tod, die Autorität über das Ende, die der moderne Individualismus nicht mehr an Biologie und Theologie delegieren will. Still Alice bereitet diesen Moment mit einigem Suspense vor: Von dem Besuch eines möglichen Pflegeheims bleibt für Alice vor allem die Erkenntnis zurück, nicht wie die verdämmerten Insassen enden zu wollen. Sie beschafft sich Schlafmittel und entwirft mit Laptop und Handy einen Plan, nach dem ihr späteres Ich kurz vor dem Verlust des Selbstbewusstseins eine Abkürzung in den Tod neben könnte. Auch daran hängen interessante Fragen (kann man sich zeitversetzt selbst töten? Wäre das Mord?), aber auch hier schöpft der Film sein Potenzial nicht aus – wohl auch, um sich nicht zu deutlich in der laufenden Sterbehilfedebatte positionieren zu müssen.
Denn Still Alice von Wash Westmoreland und Richard Glatzer (der selbst an ALS erkrankt ist) ist gar nicht so sehr ein Film über eine Krankheit. Er erzählt zwar ruhig und aufmerksam den Weg zur Diagnose, vom ersten Missverständnis bei der Familienfeier über die sorgsam vorbereitete Wortfindungsschwierigkeit bei einem Vortrag zur schwierig zu akzeptierenden Gewissheit in der Praxis des Arztes. Julianne Moores mit einem Oscar gewürdigte Leistung liegt in der unpathetischen Feinheit, mit der sie die Schwundstufen des geistigen Vermögens ihrer Figur darstellt.
Die filmischen Möglichkeiten aber, die in der Krankheit liegen, deutet der Film immer nur an. Man kann das spüren in dem Moment, in dem klar wird, dass es sich bei der frühen Form der Alzheimerkrankheit um eine erbliche handelt – die folglich auch die Kinder betreffen könnte. Aus dieser Spannung allein ließe sich ein Drama mit Vorwürfen und Auseinandersetzungen zimmern; Still Alice geht mit dem schwierigen Wissen unspektakulär um und vermeldet die Entscheidungen der Kinder nebenher. Ebenso ahnt man die Erzählvarianten, die aus Alice’ zunehmender Unselbstständigkeit und Verwirrung resultieren. Der Film verkauft seine Protagonistin nicht an billige Gags (anders als Til Schweigers Film Honig im Kopf), aber er will auch nicht zu viel Drama machen. Einmal verwirrt durchs Ferienhaus zu laufen ist genug. Abgeblendet wird am Ende auf das Wort Liebe.
Still Alice ist, und das ist die Pointe der Geschichte, zuerst ein Film über den Trost, den seine Figuren in anderen Sinnzusammenhängen nicht mehr finden. Ihren emotionalen Höhepunkt hat die Geschichte, wenn Alice in einem Reenactment ihres verlorenen, für das Selbst aber so wichtigen Arbeitslebens einen letzten Vortrag hält – vor einer gerührten Neurologentagung.
Wer keinen Gott mehr hat, muss ins Kino gehen.
Film
Still Alice Richard Glatzer, Wash Westmoreland USA/Frankreich 2014, 101 Minuten
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