Die Ordnung der Bilder

Archivfunktion Der Fotograf Roger Melis und die Welten, die man in seinen Fotografien entdecken kann

Der Name Roger Melis. Für jemanden, der am Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre noch kein richtiges Bild davon hatte, wie es sich mit der Welt verhält, für einen Heranwachsenden etwa, war dieser Name ein Faszinosum. Die DDR, oder zumindest die gröbste Vorstellung, die man sich von ihr machen konnte, hieß Günter Mittag. Oder Harry Tisch. Oder auch Udo Struutz, wie der Trabifahrer in Wolfgang Stumphs Klamotten. Bei Hermann Axen war man schon froh, dass da so ein seltener Buchstabe wie das "x" vorkam. Aber Roger Melis? Das klang, wie sonst nur Helga Paris, fremd in diesem kleinen Land, zumal man nicht einmal wusste, wie man den Vornamen aussprechen sollte, und weil man immerhin wusste, dass der sich nicht jener Sehnsucht nach Welt verdankte, die seit den siebziger Jahren erst Patricks und Jeanettes und später Kevins und Chantals produzierte. Die Irritation verstärkte noch, dass der Name Roger Melis überall auftauchte, in Zeitungen hüben wie drüben, auf einem Buch, das Paris zu Fuß hieß und im Verlag Volk und Welt erschienen war und unter den Bildern, die deutsche Dichter zeigen. Der Name Roger Melis schien keinen festen Ort zu haben, sondern überall hinzugehören, in Räume, die sich nicht an Grenzen halten und Zeiten, die keine Moden kennen.

Nun liegen vor Roger Melis in der Berliner Stadtwohnung zwei große, schwere Fotobände aus dem Lehmstedt-Verlag. Sie heißen In einem stillen Land und Künstlerporträts, ein dritter Band über die Uckermark ist in Vorbereitung. Wer sich die Bilder anschaut, die von dem Fotografen in den Künstlerporträts versammelt sind, der sieht ein Land, das keine Grenzen hat und vielmehr eine Landschaft ist, eine geistige Lebenswelt, die nicht nach zeitweise getrennten Staatsangehörigkeiten sortiert. Man sieht, natürlich, Anna Seghers, Heiner Müller, Peter Hacks und Hermann Henselmann. Aber man sieht auch Günter Grass, Adolf Muschg, Max Frisch, Ernst Jandl, Walter Höllerer. Und man sieht Miguel Angel Asturias, Tschingis Aitmatow, Lenka Reinerova, Pablo Neruda. "Das waren unsere Leute", sagt Melis´ Frau Dorothea, und das "unsere" meint nicht "die von hier", sondern "die für uns bedeutsam waren".

Roger Melis war früh ein Grenzüberschreiter. Der Hunger nach Welt war die auch melancholische Krankheit, an der die DDR in verschiedenen Facetten gelitten hat. Fotograf ist Melis aus Fernweh geworden, und zwischen seiner Ausbildung in einem Potsdamer Fotostudio und der Arbeit als Fotograf in der wissenschaftlichen Abteilung der Berliner Charité heuerte er auf einem "Hochseetrawler als Moses" an und fuhr bis Grönland. 1962, als die beiden deutschen Staaten gerade getrennt waren, schob Klaus Völker ein Projekt an, das den 22-Jährigen nach Westberlin führte. "Wir wollten ein Anti-Anti-Mauerbuch machen", die linken westdeutschen Schriftstellern dazu bringen, nicht in den Tenor derer einzustimmen, die gegen die Grenzziehung polemisierten. "Das war linkes Gedankengut damals, das sich das entspannt, etwas wachsen kann." Die Versicherung, dass der Fernwehmütige auch wieder zurückkam, waren seine Eltern, der Stiefvater Peter Huchel in Wilhelmshorst, gegen den wäre, nach all den Debatten um Sinn und Form, das Wegbleiben des Sohnes das letzte Argument gewesen.

"Bei einem Porträt geht es darum, einen Menschen zu zeigen, der bei sich selbst ist", sagt Roger Melis. Den Beweis dafür, dass ihm das gelungen ist, erbringen die vielen bekannten Bilder, hinter denen man beim flüchtigen Wahrnehmen vielleicht keinen Autor vermutet hätte, weil man das Gefühl hat, dass das quasi die offiziellen Bilder bekannter Persönlichkeiten sind. Sie schmücken Autobiographien und Einladungen zu Gedenkveranstaltungen, sie sind die Bilder, die im Kopf hat, wer an Heiner Müller denkt oder Anna Seghers. Bei Wolf Biermann, den Melis unter anderem als "preußischen Ikarus" vor einem gusseisernen Adler an der Weidendammer Brücke abgelichtet hat, kann man sich im Nachhinein fragen, ob dessen Image als erster Aus-der-Reihe-Tänzer der DDR sich nicht eigentlich den Bildern von Roger Melis verdankt: die legendären Plattencover, Gruppenbilder und Innenansichten von der riesigen Wohnung an der Chausseestraße, alles von Melis. Den Porträtierten zu sich selbst zu verhelfen, war mitunter nicht so einfach. Anna Seghers etwa spulte das Programm eingeübter Schriftstellerposen vor Schreibmaschine und Schreibtisch ab, ehe Melis sie auf den unbequemsten Stuhl im Raum setzte, von dem sie nun für alle Zeit als Anna Seghers schaut. Wo der Fotograf häufig den ersten Film "durchzieht", um Vertrauen zu seinem Gegenüber aufzubauen, das dann auf den Bildern des zweiten zu sehen ist, gibt es auch Fälle, in denen es zu keinem zweiten Film kam. "Erzähl´ doch mal von Kuczynski", sagt Dorothea Melis erheitert, und ihr Mann berichtet, wie er in der Villa in Weißensee empfangen wird mit der ungeduldigen Frage: "Junger Mann, haben Sie nichts anderes zu tun, als mich zu fotografieren", und der junge Mann sagt, er habe aber den Auftrag vom Aufbau-Verlag, von Kuczynski ein Bild zu machen. Nach "elfeinhalb Minuten" weiterer Ungeduld sagte der schließlich: "Also, wenn Sie nichts Besseres zu tun haben, ich habe etwas Besseres zu tun", und ging aus dem Zimmer.

Die "Künstlerporträts" erzählen zwei Geschichten. Die vom Älterwerden der Menschen und die von der Geschichte der DDR. Die erste lässt sich an Heiner Müller zeigen, der Melis sogar dann angerufen hat, wenn er Passbilder für seinen Reisepass brauchte. Sie beginnt bei dem jungen, ambitionierten Dichter in Pankow, der sein spitzes Kinn kühn in die Welt reckt, und sie endet bei dem lässig, fast etwas müde schauenden Zigarrenraucher, der dieser Welt nichts mehr beweisen muss. Die zweite Geschichte erstreckt sich von den geordneten bürgerlichen Nachkriegsphysiognomien der sechziger Jahre über die länger und struppiger werdenden Haare der späten Siebziger bis hin zum unprätentiösen Ungehorsam der letzten DDR-Künstlergeneration, ehe sie in die großen Alten und neuen Hoffnungen der Nachwendezeit übergeht. Ein kleines Kapitel gehört den Ausreisenden der siebziger Jahre, die - wie Sarah Kirsch auf gepackten Kisten mit russischen Zoll-Aufdrucken sitzend - den Fotografen Melis für ein letztes Bild zu sich gebeten hatten, ehe sie das Land in Richtung Westen verließen.


Eine andere Geschichte der DDR illustrieren die Fotos in dem Band In einem stillen Land. Es sind Fotografien von ganz normalen Leuten, Alltagsbilder, Landschaftsaufnahmen. Sie zeigen Roger Melis als Reportagefotografen, der anfangs für die Modezeitschrift Sibylle, bei der seine Frau Redakteurin war, und die Neue Berliner Illustrierte gearbeitet hatte, ab 1972 auch für die Wochenpost. Schon die Modebilder waren nicht in der Künstlichkeit des Studios entstanden, sondern in der Wirklichkeit, deren Laufstege die Bürgersteige sind. Für die Reportagen reiste Melis damals an der Seite von Journalistinnen wie Margot Pfannstiel, Monika Maron oder Irina Liebmann (später mit Marlies Menge für die Zeit oder Birk Meinhardt für die SZ.) Was der Fotograf in der sozialistischen Produktion und im Alltag an Motiven fand, entsprach häufig nicht dem Bild, dass die DDR offiziell von sich haben wollte. "Müllkastenfotographie", sagten die Verbände und Institutionen dazu. Dabei eignet Melis´ Gegenbildern aus dem "stillen Land" kein investigativer Furor, der den Teppich hochhebt, um den Schmutz unter ihm hervorzukehren. Sie sind aufgenommen aus einem Winkel, der die Flicken erkennen lässt, aus denen dieser Teppich bestand, die Ungleichzeitigkeiten, die Abweichungen. Die Parteitagsdelegierte im Kraftwerk Vetschau, die hinter der riesigen Bühne samt Rednerpult in ihrer abgelesenen Rede verschwindet, während im Vordergrund zwei Arbeiter desinteressiert-suchend in das Publikum blicken. Das ältere Ehepaar, das sich seinen Vorgarten auf einem Bitterfelder Trottoir eingerichtet hat und munter eine Passantin grüßt. Es liegt eine große Ruhe auf dem Gesicht der DDR, wie Roger Melis es zeichnet. Seine Bilder handeln von den Pausen der ideologischen Kämpfe wie der Planerfüllung, von den Lücken, in denen das Leben stattfindet. Vielleicht ist das ein spezifisch ostdeutscher Blick, denn man findet ihn auch in dem Paris- und in dem London-Buch, in denen der Fotograf das Fernweh seines Landes stillte: nicht an den Postkartenmotiven, sondern im Blick auf die Menschen, die hinter den Fassaden der Tourismusprospekte leben und in deren Mienen sich häufig genug Erschöpfung zeigt oder auch nur die gewöhnliche Stulligkeit, mit der man das Leben zumeist an sich vorüberziehen lässt.

In den siebziger Jahren, als die Stadtflucht der Ostberliner Intellektuellen einsetzte, zog es das Ehepaar Melis an den Wochenenden in ein "desolates Bauernhaus" in der Uckermark, nördlich von Berlin. Hier sind Bilder entstanden, die aus der Zeit gefallen sind, eine karge, schöne Landschaft, für die sich keine Großindustrie interessiert hat, ein dörfliches Leben, das seinem eigenen Kalender folgt, Hochzeiten, Feuerwehrübungen, Landwirtschaft. "Das war 19. Jahrhundert", sagt Roger Melis. Das Absurde an den Aufnahmen aus dem "stillen Land" ist, dass sie gemacht worden sind, um nüchtern und unsentimental das Leben festzuhalten, mit "Ehrfurcht", wie einmal jemand schrieb, vor den Menschen, die dieses Leben geführt haben. Wer sie heute anschaut, kann aber sentimental werden, von einer Melancholie befallen, die sich nach dieser Leere, dem Stillstand, der Freizeit sehnt, die darin dokumentiert sind.

Die Bildbände, auf denen der Name Roger Melis steht, sind eine Art Archiv. Ein Archiv der DDR, in dem diese größer erscheinen konnte, als sie war, und in ihrem langsamen Verfall besser aussehen konnte, als es einem damals in den Sinn gekommen wäre.

Roger Melis In einem stillen Land. Fotografien 1965 - 1989. Bilder und Zeiten, Band 3, Herausgegeben von Mathias Bertram, 169 ganzseitige Duotone-Abbildungen, 192 S., 24,90 EUR

Roger Melis Künstlerporträts. Fotografien 1962 - 2002. Bilder und Zeiten, Band 4, 216 ganzseitige Duotone-Abbildungen, 232 S., 29,90 EUR. Beide bei Lehmstedt, Leipzig

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