Die quotenkommunistische Insel

Markenpflege Til Schweiger, Feiertagsbetrieb, Schauplatzschwemme: Der "Tatort" hält viel aus. Überlegungen zu aktuellen Entwicklungen in Deutschlands beliebtester Fernsehreihe
Ausgabe 10/2013
Die quotenkommunistische Insel

Bild: Picture Alliance / DPA

Zur Bilanzierung des vergangenen Jahres hat die ARD eine Pressemappe veröffentlicht. Sie trägt den schönen Titel Qualität und Quote 2012, und darin findet sich die „Rangliste der 20 meistgesehenen Fernsehsendungen des Ersten im Jahr 2012“. Das heißt: elf Fußballspiele und sechs Informationssendungen (ein Mal Tagesschau, fünf Mal Tagesthemen), was gut klingt und zum Bild der ARD zu passen scheint.

Bei genauerem Hinschauen handelt es sich allerdings nur um Nachrichtensendungen, die vor Anpfiff oder in der Halbzeitpause der aufgeführten Fußballspiele programmiert waren. Das heißt wiederum: 17 der 20 meistgesehenen ARD-Sendungen 2012 haben mit der ARD nichts zu tun. Lägen die Übertragungsrechte für kontinentale Fußballmeisterschaften und Qualifikationsspiele der deutschen Nationalmannschaft bei Tele5, könnte man sich dort mit ebenso hohen Einschaltquoten brüsten, und vermutlich würde im Umfeld solcher Partien noch das Testbild Spitzenwerte der gemessenen Zuschauergunst erreichen.

Auf Twitter und in der Kantine

Die drei „meistgesehenen“ ARD-Sendungen im vergangenen Jahr sind in Wahrheit also die Tatort-Folgen, die in dieser Liste auftauchen: zwei Mal Münster, ein Mal Hannover. Hier kann man von einer spezifischen Programmleistung der ARD sprechen und zugleich verstehen, was der Tatort dem Ersten Deutschen Fernsehen bedeutet. Die Begeisterung für die sonntägliche Sendung ist seit einiger Zeit, so will es scheinen, dort selbst am größten. 2012 wurden Neuerungen in diese Reihe quasi im Wochentakt verkündet.

Eine davon betrifft Til Schweiger, der am Sonntag als Tatort-Kommissar in Hamburg debütieren wird. Zur Ankündigung schreibt NDR-Intendant Lutz Marmor im Presseheft: „Mit unserem ersten Til Schweiger-Tatort haben wir eines schon erreicht: Die Leute reden darüber.“

Dass die Leute über den Tatort reden, mag den Intendanten freuen – es braucht dafür nur Deutschlands bekanntesten Schauspieler nicht. Die Leute reden auch so über den Tatort: während der Sendung auf Twitter und Facebook und am darauffolgenden Tag in den Kantinen und am Rande von Konferenzen der Angestelltenwelt. Denn der Tatort ist zum Darüberreden da; er kann, weil alle, soweit der Begriff reicht, ihn gesehen haben, gemeinsam diskutiert werden. Die Fernsehreihe bildet den kleinsten gemeinsamen Nenner einer durch Youtube und Mediatheken auch zeitlich fragmentierten Fernsehgesellschaft.

Zwar mag man NDR-Chef Marmor recht geben, insofern Schweigers Engagement den konkreten Anlass etwa auch für diesen Text bildet. Es gibt diese Anlässe aber zuhauf, bedingt schon durch die Geschichte, die der Tatort mittlerweile mit sich rumschleppt: der kommende Tatort ist der 865., die 900. Folge ist folglich nicht fern, die 1.000 auch nicht, 2015 steht der 45. Geburtstag an. Und wer nicht so lang warten will, macht es wie die Zeitschrift Cicero, die im letzten Herbst zum Saisonbeginn mit einer Titel-Geschichte zum Phänomen aufwartete, deren Gag darin bestand, auf dem Cover jeweils das Ermittlerpaar jener Region zu zeigen, in der das Heft auslag.

Mittlerweile existieren 21 dieser Ermittlerpaare, was viel mit dem Aktualisierungsschub aus dem vergangenen Jahr zu tun hat. In Dortmund gibt es seit dem Herbst den vierten WDR-Tatort, im Januar war zum ersten Mal Saarbrücken mit dem neuen Kommissar Jens Stellbrink zu sehen, der von Devid Striesow gespielt wird. Noch folgen werden in diesem Jahr die Auftritte des vierten, in und um Hamburg lokalisieren NDR-Ermittlers, den Wotan Wilke Möhring darstellen soll, und eines zweiten MDR-Teams in Erfurt sowie der Spaß-Tatort zur Weihnachtszeit aus Weimar, für den Nora Tschirner und Christian Ulmen zusammenarbeiten werden.

Die größte Aufmerksamkeit und vermutlich höchste Tatort-Quote für die ARD-Bilanz 2013 wird aber Til Schweigers Engagement nächsten Sonntag generieren. Die Frage ist, wozu. Unabhängig davon, warum das öffentlich-rechtliche Fernsehen überhaupt glaubt, seine Erfolge in Quoten ausweisen zu müssen, einer zumal am werbefreien Sonntagabend überflüssigen Währung: Der Tatort ist in gewisser Weise eine quotenkommunistische Insel im Meer des aufmerksamkeitskapitalistischen Wettbewerbs – die Leute schauen sowieso.

Verkürzte Drehzeiten

Es wäre also hilfreich, wenn die ARD ihren Stolz und Ehrgeiz in Sachen Tatort nicht allein auf Aspekte der Vermarktung konzentrieren würde, sondern die Sonderstellung dieses Programms zuerst durch Investitionen in die Filme selbst unterstriche. Also: bessere Drehbücher, großzügigere Ausstattung und gerade keine Verkürzung der Drehzeit auf 23 oder 21 Tage, wie sie aus Kostengründen mehrere Anstalten zuletzt vorgenommen haben. Im Netz des föderalen Konsens’, den die Arbeit im Zusammenhang ARD bedeutet, mag es schwierig sein, selbst das identitäre Erfolgsprogramm Tatort spürbar zu bevorzugen. Das Erste Deutsche Fernsehen macht sich jedoch lächerlich, wo Sonntagsreden auf die eigene Größe am Beispiel des Tatort gehalten werden, und man zugleich mit Verweis auf senderinterne Ausbalancierungen den Ruf des öffentlich-rechtlichen Fernsehens unterminierende Degeto-Schmonzetten in großer Zahl herstellt. Am Ende ist alles bloß Gebührengeld, das sinnvoller als für neokoloniale Fernwehfilme zur Pflege der staatstragenden Fernsehreihe eingesetzt würde.

Die Kunst der Markenpflege betrifft nun drei Konstellationen, innerhalb derer aktuell gewisse Verschiebungen zu registrieren sind. Da wäre erstens das Verhältnis der Reihe zu ihren Darstellern, und hier berührt Til Schweigers Verpflichtung einen kritischen Punkt. So prominent wie der vielleicht einzige deutsche Schauspieler, der die Bezeichnung „Star“ als Ausdruck seiner Marktmacht an der Kinokasse verdient, war noch kein Tatort-Kommissar vor ihm. Deshalb wird es interessant sein zu beobachten, wie Schweiger künftig in einer Reihe funktioniert, die eigentlich größer ist als ihre Protagonisten – Götz George und Manfred Krug haben einst durch ihre Tatort-Rollen an Prominenz gewonnen, nicht umgekehrt.

Mit Blick auf die Integrationskraft des Tatort könnte Schweigers Engagement der Reihe im schlimmsten Fall egal sein. Der Tatort hält viel aus, und Schweigers Nick Tschiller ermittelt lediglich einmal im Jahr. Gerade dadurch aber wird die Struktur des Tatort angetastet. Mit Ulrich Tukurs Lust-und-Laune-Auftritt als LKA-Mann Murot in Wiesbaden hat sich ein Kuhhandel etabliert, der als Muster für die Verpflichtung von Schweiger sowie Tschirner/Ulmen erst dienen konnte und bei der Änderung von Maria Furtwänglers Vertrag als Charlotte Lindholm in Hannover Vorbild war: Der Tatort bekommt prominente Schauspieler, die sich normalerweise nicht auf die Rolle eines Fernsehpolizisten festlegen lassen würden, und gesteht ihnen im Gegenzug Sonderkonditionen zu.

Die zweite Konstellation betrifft das Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Grob gesagt besteht die Kunst der Verantwortlichen darin, die Lust des Zuschauers auf den Tatort bis an die Grenze zum Überdruss zu bedienen. Neben der Inflation von Wiederholungen von zumeist nur Folgen aus der jüngsten Tatort-Geschichte in den Dritten macht die Programmplanung dabei von einem Missverständnis Gebrauch, das aus Wahrscheinlichkeit resultiert. Der Sendeplatz des Tatort (analog: des Polizeiruf 110, der als vereinigungsbedingte Sonderform mittelfristig wohl im Tatort aufgehen wird) ist mitnichten Sonntagabend, sondern 20.15 Uhr am letzten Tag, bevor die Arbeit wieder beginnt. Dieser Tag ist – daher das Missverständnis – in der Regel ein Sonntag, kann aber als Feiertag auch auf jeden anderen Wochentag fallen. Auf solche „künstlichen“ Sonntage als zusätzliche Sendetermine hat die ARD zum Jahreswechsel 2012/13 verstärkt gesetzt: Außer an den beiden regulären Sonntagen (23. und 30. Dezember) wurden neue „Tatort“-Folgen am 26. Dezember (ein Mittwoch) und am Neujahrstag (Dienstag) gesendet.

Eine – wenn diese feuilletonistisch-alarmistische Vokabel einmal gestattet ist – Gefahr für die Marke droht hier wie bei der Ereignishaftigkeit von Einmalauftritten der Promi-Schauspieler, weil der Tatort in nicht unbeträchtlichem Maße Gewohnheit befriedigt. Und Gewohnheit hat es nun mal gern überschaubar, sie isst nur am Sonntag Braten und kann auf Überraschungen verzichten.

Und deshalb könnte diese Gewohnheit auch gestresst sein angesichts der dritten Konstellation, dem Verhältnis zwischen Innovation und Tradition. Sechs neue Besetzungen binnen eines Jahres, und vier davon als zusätzliche Schauplätze, macht, wie gesagt, 21 Tatort-Reviere plus vier Polizeiruf-Stationen in, sommerpausenbedingt, vielleicht 42 Fernsehwochen pro Jahr. Da kann einen die Ahnung beschleichen, dass die Aufnahmefähigkeit der Zuschauer und der Wille, die Assistentin in Luzern vom dritten Ermittler in Erfurt unterscheiden zu wollen, in nächster Zeit an ihre Grenzen kommen könnte.

Gekürzter und überarbeiteter Vorabdruck aus grimme, der Festzeitschrift zum 49. Grimme-Preis 2013, die zur Verleihung am 12. April erscheint.

Matthias Dell veröffentlichte zuletzt „Herrlich inkorrekt“. Die Thiel-Boerne-Tatorte im Verlag Bertz+Fischer

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