Darf ein Dokumentarfilm einen Menschen zeigen, der angekettet liegt in einem Wald, um qualvoll zu sterben? Acht Minuten dauert der Beitrag Jean Paul des italienischen Regisseurs Francesco Uboldi, und obwohl Uboldi nicht zu sehen ist vor der Kamera, wird die Hülle der filmischen Imagination so dünn, dass man acht Minuten an niemand anderen denken kann als den Mann hinter der Kamera: Er muss doch etwas tun! Uboldi konnte nichts tun. Zufällig erfuhr er von Jean Paul, den die eigene Familie im Wald nahe einem Dorf im Kamerun dem Tod überlassen hatte, der ranghöchste Gesetzeshüter der Gegend, einen Tagesmarsch entfernt, ist Jean Pauls Onkel. Jean Paul sei besessen, und an dieses Urteil knüpfen sich Schauermärchen von Kannibalismus und Gemeingefährlichkeit. In einer großen Stadt wäre die Wahrheit Sache der Medizin, der psychisch kranke Jean Paul ein Patient. Hier, in dem Wald nahe dem Dorf, dessen Bewohnern unheimlich ist, was nicht als "normal" gilt, stirbt Jean Paul wenige Stunden nach den Aufnahmen. Und das einzige, was der hinzu geeilte Uboldi mit seiner Kamera ausrichten kann, ist die Würde der Distanz zu wahren und dem Verdammten eine Geschichte zu geben.
Was das Ethische mit dem Ästhetischen zu tun hat, war eine der Fragen, die sich unausgesprochen durch die Programmreihen beim 50. Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm zog. Die Antwort scheint einfach, ihre Umsetzung schwer: Zeigen darf man alles, wenn man es nur mit Respekt tut.
Zumindest zwiespältig könnte man vor diesem Hintergrund zwei Siegerfilme des Festivals beurteilen. Adina Pintilies Fünfzigminüter Nu te supara, dar... (Don´t get me wrong), Gewinner des Internationalen Wettbewerbs, portraitiert die Insassen einer psychiatrischen Anstalt in Rumänien. Dass er dies nicht als engagierte Sozialreportage tun will, ist dem Film anzumerken und anzurechnen. Dass er sich darüber aber in die kunstgewerbliche Ferne verzieht, aus der Verfall der Einrichtung und Geisteszustand ihrer Bewohner pittoresk erscheinen, kann man ihm vorwerfen. Pintilie rückt die Sisyphos gleichen Ocsy, der jeden Tag Kirchentreppen fegt, und Ignat, der sein Leben lang Steine sortiert, nicht so weit weg, dass sie zum Gespött des Publikums würden. Aber sie ist ihnen mit ihren langen Einstellungen auch nicht so nah, dass das Andere, für das sie stehen, mehr sein könnte als skurril.
Igor Heitzmanns Vatersuche Nach der Musik, die als beste Dokumentation im deutschen Wettbewerb ausgezeichnet wurde, ist problematisch im ästhetischen Sinne, wenn man diesen eben als Antwort auf die Frage versteht, wie man mit seinem Protagonisten umgehen darf. Der Protagonist ist Heitzmanns Vater, Otmar Suitner, Dirigent der Dresdner Staatskapelle, später des Orchesters der Berliner Staatsoper. Ein Österreicher, der in die DDR übersiedelt, wo er höchste Privilegien genießt und verheiratet ist, und der wochenends nach West-Berlin fährt, wo er im Wissen der Gattin eine Geliebte hat und einen Sohn. Suitners Leben ist ein reicher Stoff, das von den Verführungen der Kunst durch die Politik erzählen könnte oder von den Schwierigkeiten der Liebe jenseits westlicher Konventionen. Vordergründig dringt Igor Heitzmann aber auf die Annäherung an den Vater, den er kaum gehabt habt. Auf den zweiten Blick entlarvt sich das Projekt als unangenehm eitle Anstrengung des Sohnes: Schon hinter dem den Rahmen des Films stiftenden Wunsch, den Vater noch einmal dirigieren zu sehen, scheint ein Begriff von "Traum" zu stehen, wie ihn in aller Billigkeit die Castingshows des Fernsehens predigen: Du musst nur hart dran arbeiten, dann wird es auch was. Also bearbeitet Heitzmann den Vater, und am Ende wird es was - dass Suitner seine Karriere mit 68 Jahren beendet hatte, weil er an Parkinson erkrankt war, dass er Dirigenten nicht leiden kann, die sich in höchstem Alter auf die Bühne karren lassen, spielt für den "Traum" keine Rolle. Mit gemischten Gefühlen betrachtet der Zuschauer nicht nur diese Szene. Wie kann, wer die Kunst des Dirigierens schätzt, so vermessen sein, im Sessel einen dreiminütigen Crashkurs zu inszenieren? Warum muss die Kamera, wenn Vater und Sohn gemeinsam auf dem Bette liegen, um eine alte Aufnahme von Suitner zu sehen, die Beine herab gleiten und auf den Socken stehen bleiben? Die Ethik des Filmemachens zeigt sich nicht nur in der Frage, ob man einen Sterbenden filmt. Sie beginnt bei der Entscheidung für oder gegen die Socken. Heitzmann bricht in Nach der Musik das Jahrhundertleben Suitners bisweilen auf ein privates Eiapopeia herunter, worin die Küchenpsychologie eine subtile Form des Vatermords erkennen mag. Am Ende ist der Film sehenswert und nicht peinlich nur, weil der österreichisch-weltgewandten Lässigkeit von Suitner vermutlich keine Kamera der Welt etwas anhaben kann.
Wie man einen Helden würdigt, ihn nicht überhöht, aber auch nicht denunziert, führt emotional der Film Sportsfreund Lötzsch von Sandra Prechtel und Sascha Hilpert vor, der den Zuschauerpreis von Leipzig gewann. Die Geschichte von Wolfgang Lötzsch ist die des besten DDR-Radfahrers der siebziger und frühen achtziger Jahre, und sie hat nicht stattgefunden, weil es dem Sachsen an positiver Einstellung zu seinem Staat mangelte. Lötzsch wurde "ausdelegiert". Im Gegensatz zu tausend anderen, denen die Förderung durchs staatliche System aus politischen Gründen versagt blieb, gab er nicht klein bei und düpierte selbst nach Gefängnismonaten als Amateur einer Betriebssportgemeinschaft die Elite des Leistungssports bei nationalen Rennen. Lötzsch war kein Dissident, sondern nur ein schwieriger Charakter und schlechter Taktiker. In einer Szene bezweifelt sein Stasi-Major - der permanent vorgibt, keine Details zu kennen, um von diesen dann zu berichten - ob Lötzsch, der zeitweise einen Ausreiseantrag gestellt hatte, mit seiner "Bockbeinigkeit" nicht auch im Westen Anstoß erregt hätte. Dieser Moment ist exemplarisch für das Differenzierungsvermögen des Films: dass der "Böse" etwas über den "Guten" sagt, worüber der Zuschauer zumindest nachdenken kann. So ist Sportsfreund Lötzsch ein Film, von dem man mit etwas Abstand sagen kann, dass das zeitgeschichtliche Dekor von DDR und Stasi nur die Kulisse für eine Tragödie bildet.
Nicht ganz so klar sind Mythos und Inszenierung in Alejandro Landes´ Dokumentation des Wahlkampfs von Evo Morales zu scheiden. Cocalero begleitet mit Sympathie den späteren bolivianischen Präsidenten durch Provinz, Frisiersalons und Fernsehstudios. Die Bilder von Landes stehen in Konkurrenz zu den Bildern von politischen Inszenierungen, wie man sie kennt. Darin entfalten sie ihre Differenz: Wenn Morales etwa mit Fahrer und Berater in einen See springt, erinnert das an einen Feierabendausflug und nicht an Maos offiziellen Vitalitätsnachweis. Darin besteht aber auch ihr Dilemma: Wenn Morales, leicht erhöht, seinen Stab nach Rat fragt, droht die womöglich ehrlich gemeinte Offenheit überdeckt zu werden von den Bildern, die Offenheit eben so inszeniert haben.
Als Gegenstück zu Cocalero fungiert der Film Jak to sie robi (How is it done?) des Polen Marcel Lozinski. Der filmte über drei Jahren die - wie man will - zynischen oder aufklärerischen Bemühungen eines Medienberaters, alltägliche Menschen zum Politiker zu formen. Bezeichnenderweise bleibt der Kandidat übrig, der sich zu Beginn bereit erklärt hatte, für seine Karriere über Leichen zu gehen. Am Ende überlegt er, welche Partei am besten zu ihm passen könnte - und probiert von links nach rechts alles durch.
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