Die Fiktion paust dokumentarische Bilder ab. Oder wie immer man die Ähnlichkeitsbemühungen von Oliver Stones Film nennen will. In den Credits von Snowden werden zwar zwei Bücher genannt, das Sachbuch des Guardian-Journalisten Luke Harding (auf Deutsch: Edward Snowden. Geschichte einer Weltaffäre) und der Roman von Snowdens russischem Anwalt Anatoli Kutscherena (nicht auf Deutsch erschienen und wohl nur des Zugangs zu Snowden wegen aufgeführt: The Time of the Octopus, also etwa „Die Zeit des Tintenfischs“).
Bildentscheidender aber dürfte Laura Poitras’ Dokumentarfilm Citizenfour von vor zwei Jahren gewesen sein. Denn darin waren die Bilder aus dem Hongkonger Hotelzimmer zu sehen, die Stones Film nun reenacted: Der Whistleblower erklärt der Filmemacherin Poitras und den Guardian-Journalisten Glenn Greenwald und Ewen MacAskill die Dimension der Überwachungstätigkeiten des US-Geheimdienstes und seine Beweggründe, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.
Eben wegen dieser Öffentlichkeit, also der Tatsache, dass Edward Snowden im Sommer 2013 von einem Tag auf den anderen zu einer Person des in lauter Nachrichtensendungen abgebildeten Weltgeschehens wurde, eignete Citizenfour eine leicht paradoxe Zeitstruktur. Der Film war das Prequel zu den News, kam aber als Sequel heraus, weshalb es ein Gag ist, wenn der notizblockbewehrte MacAskill sich in journalistischer Gründlichkeit Snowdens Namen buchstabieren lässt.
Immer noch Patriot
Stones Film setzt mit einer Begegnungsszene im Hotel ein (die der Situation im Zimmer aus Citizenfour wiederum vorausgeht) und kehrt immer wieder zu den von Poitras aufgezeichneten Gesprächen der vier in Hongkong zurück. MacAskill wird in Snowden von Tom Wilkinson gespielt, und es gehört zu den medialen Rückkopplungseffekten, dass der Journalist mittlerweile einen Artikel über die Begegnung mit dem Verkörperer seiner selbst geschrieben hat; Wilkinsons schottischer Dialekt hat demnach eine Edinburgher Färbung, der von MacAskill eine Glasgower.
Nicht nur in solchen Details kann man sehen, wie sehr der Dokumentarfilm von Poitras die Folie für Stones Spielfilm ist. Dabei zeigte Citizenfour zwar dokumentarisches Material behind the scenes, das sich durch das Eingeschlossensein im Hotelzimmer dann auf eigenartige Weise synchronisierte mit den überall empfangbaren Fernsehbildern. Gleichzeitig wollte der Film aber selbst schon Snowden zu einem Kinohelden machen (mit Happy End – dem Nudelkochen mit der nachgereisten Freundin im Moskauer Exil), um die Redlichkeit der Enthüllungen zu betonen. Der Kurzauftritt des an sich randständigen MacAskill ist aus diesem Grund markant: Der Gag schafft Entlastung bei aller Desillusionierung, von der Citizenfour erzählt.
Snowden füllt nun seinerseits die Interviewszenen mit einem Biopic auf, das Stone als politischen Bildungsroman entwirft. Der junge Mann (Joseph Gordon-Levitt) ist darin ein patriotischer Amerikaner, der beim Geheimdienst landet, weil er seinem Land helfen will. Nachdem er mitbekommt, wie weit die Überwachung geht, an der er auf Stationen in Japan, der Schweiz und Hawaii mitwirkt, beschließt er – immer noch, wenn auch aus veränderten Gründen, als Patriot – sein heldenhaftes Projekt.
Die Erwartungen an Stone sind gering; so zitierte eine ausführliche Recherche der New York Times über die Produktion des ohne großes Studio finanzierten Films George Clooney mit dem Satz, Stone werde das Ding in den Sand setzen.
So schlimm ist es nicht gekommen. Snowden dramatisiert seinen Stoff routiniert durch: setzt auf Spannung, wenn die kopierten Daten aus dem NSA-Bunker geschmuggelt werden müssen; fährt krustige Charaktere auf wie den guten Ausbilder Hank Forrester (Nicholas Cage) und fiese wie den Führungsoffizier O’Brian (Rhys Ifans), der nicht nur an den Bösewicht O’Brien aus George Orwells 1984 erinnert, sondern in einer Videokonferenz überlebensgroß aus der Kamera herabschaut. Oliver Stone geht es nicht um eine möglichst avancierte Lesart von Snowdens Leben oder den Vorgängen der Überwachung. Er sucht vielmehr eine konventionelle Erzählung, um mit dem Film in den Diskurs über Geheimdienste, Überwachung und vor allem das Los des Moskauer Exilanten zu intervenieren. Snowden versteht sich als Korrektiv zu dem letzte Woche veröffentlichten Bericht eines US-Parlamentsausschusses, der nach zwei Jahren Untersuchung in dem Whistleblower lediglich einen „frustrierten Angestellten“ entdecken wollte.
Und das größte Pfund dafür ist der Cameo-Auftritt von Snowden selbst, der die verwirrende Tour durch das Spiegelkabinett von Fiktion und Wirklichkeit auf die Spitze treibt. Erst redet der echte Ex-Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger mit dem Snowden-Darsteller Gordon-Levitt, dann ist der echte Snowden selbst zu sehen. Ein Insert erinnert daran, dass Hillary Clinton konform geht mit der NSA-Überwachung, aber um für die Wahl von Bernie Sanders als demokratischem Kandidaten zu werben, hätte Snowden wie geplant in der Oscar-Season des letzten Jahres herauskommen müssen.
Und dann das: Oliver Stones Film ist lau gestartet in den USA. Auf Platz eins der Charts steht Sully, eine kleinere, komfortablere Heldengeschichte über den Piloten, der ein defektes Flugzeug im Hudson River notlandete. Regisseur: Clint Eastwood, ein Mann, der Donald Trump mag.
Info
Snowden Oliver Stone F/D/USA 2016, 124 Min.
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