Ein Lebenswerk

Entwicklung In der fiktiven Langzeitbeobachtung "Boyhood" erzählt Richard Linkleater herzzereißend und undramatisch über Wege aus der Kindheit
Ausgabe 23/2014

Richard Linklater hat das Filmemachen nicht auf der Filmhochschule, sondern am Community College gelernt. Er wollte nie wissen, wie man Sachen perfekt oder auch nur richtig macht. Jahrelang drehte er in den 80ern auf Super 8, probierte, experimentierte, lebte das Hippiemotto der Stadt, in die er aus dem größeren, uninspirierenden Houston gezogen war: Keep Austin weird. Und, das kann man ergänzen: Do it yourself. Diesen Spirit des „Könnte man nicht“ oder „Man sollte doch mal“ hat Richard Linklater auf seinem einzigartigen Zickzackkurs zwischen Hollywood und Austin, zwischen für den Mainstream und aus Freude am Möglichen gemachten Projekten, niemals verloren.

Neben der Before-Trilogie, die das Leben eines Paars (gespielt von Ethan Hawke und Julie Delpy) im Abstand von jeweils neun Jahren verfolgt, ist Boyhood der beste Beweis. Hier wie da wird die Zeit zum Protagonisten und zum Hauptgegenstand. Aber nicht als abstrakte Idee, sondern als sehr konkrete Beobachtung von Lebenszeit. Könnte man nicht, so die Boyhood-Prämisse, das Aufwachsen eines Jungen in Realzeit beobachten? Und zwar nicht als Dokumentarfilm, sondern in einer Fiktion, die der Realzeit Halt in einem gestaltbaren Möglichkeitsraum gibt? Klar kann man. Im Lauf von zwölf Jahren hat Linklater mit einem zunächst sechsjährigen Jungen namens Ellar Coltrane immer wieder einzelne Szenen gedreht, so etwa im Jahresabstand. Im fertigen Film, der nun vorliegt, wächst Mason (so der Rollenname) also vom Jungen zum Mann. Mit Schwester (die von Linklaters Tochter Lorelei gespielt wird), Mutter (Patricia Arquette) und Vater (Ethan Hawke).

Die Mutter, bei der Mason lebt, hat sich aus sehr nachvollziehbaren Gründen vom Vater getrennt, einem nicht unsympathischen Loser und Tunichtgut. Leider beweist sie dann ein sagenhaftes Händchen für noch schlimmere Männer. Sie studiert, wird Lehrerin, kämpft sich durch, zieht mehrfach um. Mason erlebt dabei ganz gewöhnliche Dinge. Es geht Linklater ums Ganze, aber dieses Ganze ist zeitlich, geografisch und kulturell genau situiert: nämlich in den Nullerjahren in der texanischen Provinz. Man sieht Mason beim Blättern durch Dessouskataloge, beim Streit mit der Schwester, in der Schule, mit der ersten Freundin, beim Computerspielen, beim Erwachen eines Sinns für die Künste; glücklich, unglücklich, unsicher, hoffnungsvoll, enttäuscht.

Das Erzählen ist aber nicht viel mehr als das Medium für die Zeit. Die Fiktion schreibt sich ein in die Körper, sie wird sichtbar im Wandel der Musik, der technischen Gadgets, in dem, was den Hintergrund dessen ausmacht, was wir für die eigentlichen Ereignisse halten.

Man hat Boyhood vorgeworfen, zu weiß, zu männlich, zu hetero zu sein und zu sehr auf die untere Mittelschicht fixiert, in der er spielt. Das stimmt, aber Linklater meint seine Figuren nicht exemplarisch, sondern zugleich spezifisch und generisch. Könnte man nicht Tausende deutlich andere Versionen solcher Jahre des Heranwachsens erzählen, an anderen Orten, in anderen Schichten, zu anderen Zeiten? Man könnte nicht nur, man sollte sogar. Was nichts daran ändert, dass mit Boyhood eine denkbar hin- und herzzerreißende Umsetzung schon mal vorliegt. Ekkehard Knörer

Slacker

Am Anfang steigt ein Mann aus dem Bus in ein Taxi und belästigt dessen stoischen Fahrer mit Träumen, Gedanken, Weltwahrnehmungsmodellen. Der Mann wird gespielt von Richard Linklater, und seine Paranoia der unendlichen Möglichkeiten (die in der Gleichung endet, dass er, wäre er am Busbahnhof geblieben, die Liebe seines Lebens getroffen hätte) beschreibt das Programm des Films (wenn nicht, retrospektiv gesehen, des Gesamtwerks): Jeder Gedanke ist es wert, dass man ihm folgt. Folglich hat Slacker nicht nur einen Protagonisten, sondern unzählige. Der Film verhandelt einen Tag im Leben von Austin als Übung im Verkehrsgarten des Erzählens, in dem an jeder Kreuzung abgebogen wird in die möglichen anderen Leben fremder Menschen. Er entfernt sich von Unfallorten, wechselt in die Gespräche Vorübergehender, folgt den Kindern, die zum Fenster hineingucken in ihre Welt.

Slacker (1991) ist ein Anfang in vielerlei Hinsicht, Durchbruch und Gegenstück des Opus magnum Boyhood. Dort wird vertikal erzählt (in die Zeit), hier horizontal (in den Raum). Den Hintergrund bilden, hier wie da, politische Botschaften, wobei in Slacker, von heute aus betrachtet, beeindruckt, wie weird und paranoid das alles sein durfte – und wie gar nicht mehr so weird und paranoid es sich heute ausnimmt. Matthias Dell

Dazed and Confused

Linklaters zweiter bekannter Film hat mit dem jüngsten nicht nur die Herzenswärme gemein, mit der er seinen Figuren begegnet, sondern auch das Schlussbild: junge Menschen, am Beginn des sogenannten Ernstes des Lebens, auf einer Anhöhe in der Natur. Der Blick in die Weite geht melancholisch in das Tal der Möglichkeiten. Wenn es, wie bei Linklater, um den Respekt vor diesen Möglichkeiten geht, das Träumen davon und Erinnern daran, dann ist der letzte Schultag im Mai 1976 in Dazed and Confused der ideale Ort, um zu erzählen: eine Schwelle, die gemeinsam genommen wird und hinter der so viele verschiedene Räume liegen, wie es Schüler gibt.

Neben den Verdruckstheiten (etwa der erlebnisfern-abstrahierenden, Woodward und Bernstein genannten Klassenklugen; Die Unbestechlichen lief gerade in den Kinos), für die Linklater einen schönen Sinn hat, zeigt sich in Dazed and Confused zartes Startum: wie der Eintritt von Matthew McConaugheys Stadtschönling in den Club durch Zeitlupe vorsichtig Ereignis wird. Dabei ist McConaugheys Figur (wie Ben Afflecks Sitzenbleiber) in Linklaters Zeitvermessungen ein statischer Antikörper, weil sie nur auf der Stelle tritt (nämlich: bei jeder Abschlussfeier neu Mädchen erobert).

Dazed and Confused von 1993 bilanziert – auch dank des enzyklopädischen Soundtracks – die 70er Jahre als verspätet-banal. Im Jahr 2014 wiedergesehen, wirken sie dagegen betörend unschuldig. Matthias Dell

Tape

Es ist ein Versuchsaufbau mit festen Parametern, eine Übung in selbstgewählter Reduktion: ein Raum, drei Figuren, 90 Minuten Erzählen in Echtzeit, keine Musik. Aufgenommen in schäbigen Videobildern, poor images, die auf wundersame Art das Beste aus dem machen, was da ist: Grelles Licht wirft harte Schatten, und die abgeschrappte Inneneinrichtung des billigen Motels besticht durch ein Nebeneinander von Braun (Teppich, Vorhang, Bettüberwurf) und Azur (Kacheln im Bad). Wie man lauter Schäbigkeiten so konstelliert, dass ein ästhetisches Gebilde herauskommt.

Inner- und unterhalb der reduktiven Regelhaftigkeit von Tape (2001) gärt und brodelt es jedoch. Mit sicherer Hand orchestriert Linklater die stete Eskalation zwischen seinen drei Figuren, die sich aus der Highschool kennen und zum ersten Mal seit Jahren wieder aufeinandertreffen. Was ist passiert damals, zwischen Jon (Robert Sean Leonard) und Amy (Uma Thurman), die eigentlich die Freundin von Vince (Ethan Hawke) war? Immer schneller dreht sich das Rad der Anschuldigungen, Verleugnungen und Fehlinterpretationen, vermischen sich Schuldgefühle, Eifersucht und gekränkte Liebe zu einem explosiven Cocktail. Die Schnitte sind nervös, die Kamera zügellos: Mal kauert sie nah am Boden, mal schwebt sie majestätisch an der Zimmerdecke. Tape ist eine Tour de Force in Dialogen, verfilmtes Theater und doch ganz Kino dabei. Elena Meilicke

School of Rock

Hierzulande heißt das kulturpolitische Bildungsprogramm „Jedem Kind ein Instrument“, bei Linklater: School of Rock (2003).Eine Komödie, die nichts wäre ohne ihren Hauptdarsteller Jack Black. Als zottelhaarig-wilder Musiker Dewey Finn, gerade aus seiner Band geflogen, gibt er sich als sein Mitbewohner aus und erschleicht sich, um Mietschulden zu begleichen, den Job als Lehrer an einer Eliteschule voller brav gekämmter Kinder. In der ersten Stunde hocken sich die Schüler und der Lehrer gelangweilt gegenüber, die einen hören Puff Daddy und Christina Aguilera, der andere Led Zeppelin. Finn fasst einen Lehrplan und führt die Klasse in „Theorie des Rock-Verständnisses“, Coolsein und die Geschichte des Rock ein, nicht ohne Rockerposen zu veralbern. Am Ende erspielt sich Lehrer Finn mit seiner Band und der richtigen attitude beim Schulwettbewerb die Elternschaft. Inklusive Stagediving in Uniform aus grauem Tweed. Einzige Frage: Zähmt nicht die Institution Schule den Rocker? Vera Tollmann

A Scanner Darkly

Kann Technologie menschliche Identitäten stehlen? In A Scanner Darkly (2006), dessen Drehbuchvorlage der Science-Fiction-Autor Philip K. Dick im Star-Wars-Jahr 1977 schrieb, werden die Personen von der synthetischen Droge D zersetzt – D wie dumbness oder death. Ein umfassender Überwachungsapparat soll die Dealer der Droge überführen. Keanu Reeves spielt den Undercover-Fahnder und D-Konsumenten Fred, ist also Beobachter der Drogenslacker und beobachtet sich als eingeschleusten Ermittler zugleich selbst. „Blende dein Selbst aus“, empfiehlt ein Kollege, der Fred in den Bild- und Audioscanner einweist.

Stilistisch erzählt Linklater die Anti-Drogen-Geschichte mithilfe der digitalen Rotoskopie (nach Waking Life von 2001 Linklaters zweiter 2-D-Animationsfilm) in flüssig flackernden Bildern. Ein brillanter Kniff, vor allem um die Arbeitskleidung des Agenten Fred darzustellen, eine digitale Camouflage, die aus 1,5 Millionen gespeicherter Gesichtsfragmente im Sekundentakt neue Gesichter kombiniert. Die Firma New Path, Sponsor dieses Jedermann-Overalls, stellt sich als Hersteller von D heraus, nachdem Fred im Zuge einer Disziplinarmaßnahme auf einem der Anbaufelder landet.

Sieht man den Film heute, dann berührt, wie Dicks visionäre Vorlage die Realität von Geheimdiensthandeln, Gesichtserkennungstechnik und Google Glasses beschreibt. A Scanner Darkly spielt in einer Zukunft, die schon unsere Vergangenheit ist: im Jahr 2013, in dem Edward Snowden die NSA Files veröffentlichte. Vera Tollmann

Bernie

Carthage wurde neulich zur „Best Small Town in Texas“ gewählt, sagt eine Ortsansässige und streckt der Kamera zum Beleg einen Reiseführer entgegen. Die große Liebe dieser kleinen Stadt ist ein umfangreicher Herr mit der zarten Stimme eines Engels. Bernie kommt von außerhalb, assistiert im lokalen Bestattungsunternehmen und erobert die Herzen der Witwen im Sturm (aber voller Respekt für die reduzierten Windstärken später Liebschaften).

Jack Black spielt diesen Bernie mit einer überirdischen Beseeltheit, es ist die Rolle seines Lebens. Shirley MacLaines Marjorie Nugent, die Frau, die er schließlich neun Monate lang in der Tiefkühltruhe aufbewahren wird, setzt dem erst Altersbiestigkeit, dann ausgefeilte Bösartigkeit entgegen. Auch weil Bernie den ihm schließlich zur Verfügung stehenden Reichtum großzügig in die unerfüllten Wünsche der Bewohner Carthages umleitet, fällt niemandem auf, dass eine bissige alte Lady fehlt.

Dass dies eine wahre Geschichte ist, nimmt der Film beim Wort texanischer Sprachmelodien: Es treten echte Bewohner auf, die vom echten Bernie sprechen, der am Ende mit dem echten Jack Black in einer veritablen Gefängniseinrichtung sitzt und von hier aus die Verfilmung seiner Fallgeschichte beratschlagt. Dorthin hat ihn ein Sheriff gebracht, den Matthew McConaughey als Vorstudie (und vorzeitige Parodie) auf seinen True Detective anlegt. Bernie (2011) ist das Goldstück in Linklaters Werk. Boy, he could sing. Simon Rothöhler

Boyhood Richard Linklater USA 2014, 163 Minuten. Ab 5. Juni im Kino Dazed and Confused (Verleihtitel Confusion – Sommer der Ausgeflippten ), School of Rock , A Scanner Darkly und Bernie sind auf DVD in deutschen Versionen erhältlich. Slacker und Tape gibt es nur im englischen Original

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