Über die Eisenbahnbrücke donnert eine Regionalbahn. Das ist das erste Bild in Thomas Heises Dokumentarfilm Vaterland, und es gibt eine Vorstellung davon, was unter Geschwindigkeit in den nächsten hundert Minuten zu verstehen sein wird. Unter der Eisenbahnbrücke quert ein Feldweg. Die Kamera folgt dem Pfad, passiert leer stehende Neubauten, baufällige Baracken, und irgendwann kommt sie bei einem Mann an, der Holz hackt. Es handelt sich, das erfährt Zuschauer erst später, um Otto Natho, den Betreiber des Mittelpunkts von Straguth: Nathos Gaststätte.
Das Dorf Straguth liegt neben Ortschaften mit Namen Badewitz, Deetz oder Dobritz, zehn Kilometer von Zerbst entfernt, einer Kleinstadt auf dem Weg von Dessau nach Magdeburg, und damit am Nordrand jenes deutschen Kernlandes, in dem Thomas Mann sein fiktives Kaisersaschern verortete: den Geburtsort Adrian Leverkühns, Protagonist von Manns Deutschland-Buch Doktor Faustus.
In Thomas Heises Film ist das Dorf Straguth eine Art Mittelpunkt der Zeit. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts befindet sich auf halber Strecke nach Zerbst: ein still gelegter Militärflugplatz, einst Fliegerhorst der Wehrmacht, dann Stützpunkt der Sowjetarmee, nun Leere. Eine der stärksten Szenen des Filmes ist die anfängliche Anfahrt auf Straguth, vorbei an den von Besatzern verlassenen Neubauten. Ruhig fährt die Kamera die repetitive Geometrie der Plattenbausiedlung ab, Block für Block, alle verwittert und verwaist und damit melancholischer Dämpfer für jene fortschrittsfrohen Hoffnungen, die sich irgendwann einmal mit dem DDR-Wohnungsbau verbanden. Die Pointe wartet am Ende der Einstellung: Die letzten Blocks stehen nicht mehr. Sie sind bereits abgerissen oder zusammengefallen, so genau lässt sich das nicht sagen. Der Ton führt währenddessen auf eine andere Spur. Eine männliche Stimme liest wohl formulierte Briefe aus dem Jahre 1944, Nachrichten aus dem Arbeitslager am Fliegerhorst, Korrespondenz zwischen Eltern und Kinder. Appelle an die Fähigkeit zum Überleben: -Wer tot ist, kann aus seinen Erfahrungen nichts mehr lernen. Exemplarisch an dieser Szene ist, dass sie Vergangenheiten wie durch ein Brennglas zu einem Bild der Gegenwart bündelt.
Vaterland handelt von so etwas wie totaler Gegenwart. Damit verkehrt Thomas Heises Sicht auf den Lauf der Dinge in Straguth die verbreitete Auffassung, der ländliche Raum wirke zurückgeworfen, weil die Zeit stehen geblieben sei. Der Stillstand der Zeit macht das Leben auf dem Lande vielmehr zeitlos - und die Gegenwart zur Ewigkeit. Ein recht plastisches Beispiel dafür liefert jener Kunde in Nathos Gaststätte, der erklärt, dass er seit achtzehn Jahren hier jeden Abend einige Schnäpse trinke. Ein weiteres bilden jene verwaschenen Aufnahmen, die Heise in den späten achtziger Jahren gedreht hat, als die Kampfflugzeuge noch am Himmel kreischten: Die Arbeit, die der Filmemacher damals auf staatliche Order abbrechen musste, könnte heute auch als ästhetischer Trick durchgehen, eine Vergangenheit zu fingieren, die es nie gegeben hat. Die Kneipe, die Menschen, das Leben - alles sieht sich auf verblüffende Weise ähnlich, was die beiläufige Montage verstärkt, die nicht auf sichtbare Vorher-Nachher-Effekte zielt. Weil es sie nicht gibt.
Der Film versteht sich nicht als beredte Sozialreportage aus der Provinz. Die Dorfbewohner bleiben ähnlich anonym wie die Briefeschreiber aus dem Off. Eher noch als durch Name und Beruf sind sie durch die Schriftzüge gekennzeichnet, die von ihren Pullovern und T-Shirts rufen: San Francisco, Sports, Fundamental. Letzteres weist einen Mann mittleren Alters aus, dessen Kindheit aus dauernder Unterstützung der Mutter bei der Landarbeit bestand, aus in Erschöpfung verschlafenen Schulstunden und der wegen Schmächtigkeit erfahrenen Zurücksetzung in der Gruppe. Der Mann saß vierzehn Jahre im Gefängnis, weil er, wie er sagt, in einer Prügelei den anderen unglücklich am Kehlkopf getroffen hat.
Sports steht auf dem Sweatshirt eines Mannes, der die Gleichförmigkeit von Straguth schon hinter sich hatte, vor zehn Jahren aber zurückkehrte, als der Vater erkrankte und das Erbe angetreten werden musste. Die Frau hat ihn irgendwann verlassen, plötzlich, wie er sagt, die drei Söhne haben sich für Straguth entschieden, er sei konsequent gewesen, die Scheidung ging schnell durch. Er wird ausharren in Straguth, bis der Jüngste aus dem Haus ist, obwohl es wenig Arbeit gibt. Große Pläne hören sich anders an.
Was ist wichtig in einem Leben, dem keine Zeit, und meint sie es noch so schlecht, etwas anhaben kann? Vaterland stellt die Frage nach dem Glück, weil die basale Zeitlosigkeit auf dem Lande viel vom dem ausschließt, was man dafür halten könnte. Es geht dabei nicht um das Lob der Idylle oder um einfache Freuden, sondern um die Schwierigkeit, einen Mehrwert aus der wiederkehrenden Einförmigkeit des Daseins zu errechnen. Eine Frau, die ein gestreiftes und unbeschriftetes Oberteil trägt, formuliert dieses Problem als widersprüchliche Gleichung: -Ich bin froh, dass ich hier bin, ich muss doch nicht glücklich sein.
Thomas Heises Zeitgeschichtung balanciert auf einem schmalen Grad zwischen Banalität und Universalität. Welches die schönste Zeit in seinem Leben gewesen sei, wird der Wirt Otto Natho am Ende gefragt. Im Krieg hätte er Angst gehabt und danach habe er sich durchgeschlagen, sagt der massige Mann. Und mit Blick auf künftige Aufgaben: "Egal, ob Himmel oder Teufel - ich werd schon einigermaßen über die Runden kommen."
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