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Die erste Geschichte ist schnell erzählt. Sie handelt von Meriten, die nicht verdient werden wollten, von ausgeschlagenen Kisch-Preisen für einen Journalismus, der dahin geht, wo’s wehtut, unbeirrt, gegen alle Widerstände. Seit letztem Herbst gibt es eine Pressemeldung, in der steht, dass die Firma EFW-Suhl eine Elektroversion der Schwalbe produzieren will, die in diesem Frühjahr zur Marktreife gelangen soll. Im Internet gibt es dazu eine Seite (e-schwalbe.de), auf der ein Bild des künftigen Gefährts zu sehen ist. Außerdem stehen da technische Daten, die Pressemeldung vom Herbst und ein Impressum mit der Anschrift von EFW-Suhl.
Der Reporter zieht los. Ende Januar findet sich unter der EFW-Adresse ein Backsteinbau in einem Gewerbegebiet, einen Steinwurf vom Suhler Stadtzentrum entfernt. Anlieger haben von der E-Schwalbe in der Zeitung gelesen, wissen aber nichts von ihrem Nachbarn. An dem Backsteinbau steht ein wenig glamouröses Schild mit dem EFW-Akronym, von dem man nicht weiß, was es abkürzt. Das Haus wirkt ungenutzt oder zumindest nicht so, wie man sich den Sitz einer Firma vorstellt, die eifrig an der Markteinführung eines revolutionär-legendären Zweirads arbeitet. Der Reporter könnte jetzt versuchen, investigativ zu werden, eine offene Hintertür zu suchen, ein Fenster kaputt zu schlagen, um einzusteigen und sich ein Bild zu machen. Mutig entschließt er sich zu klingeln. Es regt sich nichts. Der Reporter zieht entschlossen wieder ab.
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Die zweite Geschichte ist länger. Sie handelt von der Schwalbe. Der richtigen Schwalbe. Der legendären Schwalbe. Sie ist nicht so sehr eine Geschichte der Geschichte, sondern eine unendliche Geschichte. Die Geschichte dauert noch an, die Schwalbe gibt es noch. Zum ersten Mal gebaut wurde sie 1964. Als Teil der so genannten Vogelserie des VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerks „Ernst Thälmann“ Suhl, wie der Betrieb dann schließlich hieß. Namen sind nicht ganz unwichtig in dieser Geschichte, Simson wurde in der DDR zum Synonym für Kleinkrafträder, Leichtkrafträder, alles unter 80 Kubik. Die DDR war ein überschaubares Land, in dem die Planwirtschaft den wichtigen Produktlinien Orte zugewiesen hatte, mit denen diese identifiziert werden konnten. Kleinkrafträder hießen Simson und kamen aus Suhl, Motorräder hießen MZ und kamen aus Zschopau. Weil die DDR-Planwirtschaft nach dem Krieg nicht bei null angefangen hat, ist die Landkarte, die sich aus diesen Produktionsstätten zeichnen ließe, auch ein Abbild des 19. Jahrhunderts, das die Umrisse von Tradition und Industrialisierung erkennen lässt.
Simson war in der DDR ein Synonym für Zweikrafträder, so wie im Westen Nutella für Nussnugatcreme, Tempo für Zellstofftaschentücher. Unter dem Namen Simson wurden schon vor Beginn der DDR Fahrzeuge gebaut. Das war eine Zeit, in der noch Menschen in Deutschland lebten, die Simson hießen. Simson ist ein jüdischer Name. Thüringen war eines der Länder, die früh Hochburgen der Nazis waren, der Gauleiter Fritz Sauckel wurde 1946 im ersten Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt. So steht die Schwalbe in einer Linie, die sich durch die deutsche Industriegeschichte im 20. Jahrhundert zieht, und in der es einen Bruch gibt, den man sich erst wieder bewusst machen muss. Er ist durch das Jahr 1933 markiert, durch Enteignung, „Arisierung“, Umverteilung von Vermögen, Diebstahl, Leid, Flucht, Tod. Das ist eine Geschichte, die eigens erzählt werden müsste.
In der Bundesrepublik geht die Ungerechtigkeit weiter, in der DDR kommt – wie man’s nimmt – eine neue dazu oder die alte wird unfreiwillig korrigiert: Es wird verstaatlicht. Die Zweikrafträder heißen wieder Simson, aber der Name füllt sich mit neuer Bedeutung. Heute ist er weniger Relikt eines jüdischen Lebens in Deutschland, das vernichtet worden ist vom Nationalsozialismus. Heute steht Simson, steht die Schwalbe für die DDR. Weil es die Schwalbe noch immer gibt, ist sie einer der Gegenstände, an dem man die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten studieren kann. Oder den Beitritt des einen zum anderen, den „Anschluss“, was auch immer, denn es steckt eine Unwucht in diesem geschichtlichen Prozess. Eine Unwucht, die jetzt im Mythos der Schwalbe steckt. Die Schwalbe ist nicht unschuldig, die Schwalbe ist ein Statement.
Fragt sich nur: wofür?
Die Schriftstellerin, aus dem Westen, erkennt in der Schwalbe die nicht verkraftete DDR-Kindheit ihres Besitzers. Jene Nostalgie, bei der irgendwann das „N“ weggelassen wurde, weil sie sich regressiv wie jede Nostalgie, aber ideologisch verdächtig wie nur die Nostalgie aufs Falsche – die Nostalgie aus dem Osten –, auf die Dingwelt dieses Ostens richtet.
Der Radiomann, auch aus dem Westen (die Meinungen aus dem Osten kommen in diesem Text weiter hinten), erkennt an der Schwalbe den Besitzer aus dem Westen. Der ist um seine Individualität besorgt. Deshalb sucht er sich Objekte für einen Lebensstil, der ihm in seinen Distinktionsbemühungen Erfolg verspricht. Dinge, die offen sind für solche Aneignungen, weil sie den Großteil der Zeitgenossen nicht interessieren. Weil sie beschädigt sind von falscher Geschichte, aber trotzdem wieder entdeckt werden können wegen ihrer lässigen Schönheit.
Und was jetzt? Woher kommt denn nun der Besitzer der Schwalbe?
Aus Ost und West, genauer lässt sich das nicht sagen. Man kann der Schwalbe auch rational kommen, aber das glaubt einem erstens keiner. Erstens heißt, die Schwalbe ist immer noch günstig zu haben, gebraucht, versteht sich. Die Schwalbe ist noch kein rarer Oldtimer, sie ist immer noch ein Gebrauchsgegenstand.
Und zweitens geht es bei der Schwalbe nicht mehr um Zweckmäßigkeit. Das erfährt man, wenn man jemanden fragt, der etwas davon versteht. Joachim Scheibe ist heute Leiter des Fahrzeugmuseums in Suhl. Das sitzt seit vier Jahren im so genannten Congress Center Suhl, einem Investorenbau, der nach 1990 die stolze DDR-Moderne im Zentrum, die runde Stadthalle von Heinz Luther und das angrenzende Schwimmbad von Ulrich Möckel, unter sich begraben hat. Wie bei einem Auflauf. Als ob man über ein Filetstück und eine Beilage dicke, klebrige Soße gekippt hätte, die jedem schmecken soll. Schwimmbad und Halle gibt es weiterhin. Der Gebäudeauflauf sieht aber von außen so billig aus, dass man am liebsten die strenge, zeitlose Sechziger-Jahre-Architektur wieder hervorkratzen würde. Aber darum geht es nicht. Immerhin war im Gebäudeauflauf noch neugewonnener Platz frei, den die Stadt nicht vermietet bekommen hat, so sitzt das Fahrzeugmuseum jetzt hier. Das Echo der Simson-Jahre. 36.000 Leute kämen im Jahr, sagt Scheibe.
Joachim Scheibe war seit 1962 bei Simson, er war unter anderem Chefkonstrukteur und Forschungsdirektor. Die Schwalbe war eines der Produkte, die Scheibe betreuen musste, nicht das einzige. „Die Schwalbe war nicht mein Ding, wenn Sie’s genau wissen wollen.“ Scheibe sagt das nicht, weil er die Schwalbe nicht leiden kann, für ihn ist Simson nur mehr als die Schwalbe, nach der er immer gefragt wird. Die Schwalbe war zu Beginn ein Familienmitglied, ein Teil der reizenden Vogelserie, die Simson in den sechziger Jahren aufgelegt hatte: Spatz, Star, Sperber, Habicht, Schwalbe. Es ist ein wenig wie bei den Jackson Five: Da ist immer nur einer, der es auch alleine schafft. Bei Michael Jackson war das ziemlich klar, der war immer der Kleine, Niedliche, und er konnte am besten singen.
Aber die Schwalbe?
Die war damals was für „Gemeindeschwestern, den ABV, die Landwirtschaft“, sagt Scheibe. Man kann heraushören, dass Gemeindeschwestern, Abschnittsbevollbemächtigte oder LPG-Fritzen nicht die Rollenmodelle sind, die man sich zum Vorbild wählt, wenn man einen heißen Ofen unter dem Hintern hat. Technikkenner wie Scheibe haben sich immer fürs Sportlichere, Schwerere interessiert. Und die halbstarken Jungs, die ihrem Übermut Ausdruck verleihen und Mädchen beeindrucken wollten, fürs Motorrad aber noch zu jung waren, die haben auf Mokicks gesetzt, die schnittiger aussahen. So wie am Ende die S51. Ein kleines Motorrad. Die Schwalbe hat dagegen diesen omahaften Windschutz. Es gibt Theoretiker der Schwalbe, die begründen die mitunter schwächelnde Batterie damit, dass man auf dem Land nicht viel blinken musste. Kam eh keiner, ging immer nur geradeaus. Wer mit der Schwalbe an den Treffpunkten jugendlichen Abhängens vorfuhr, ließ sich auch von Mutti die Anziehsachen rauslegen. So muss man sich das vorstellen. Die Schwalbe war in ihrer aktiven Zeit, als sie noch gebaut wurde, 60.000 Mal im Jahr, 21 Jahre lang, ein Fahrzeug für die Übriggebliebenen. Nicht für die, die was wollten. Heute ist die Schwalbe selbst übrig geblieben. Das hängt zusammen.
Die Geschichte der Schwalbe, wie Scheibe sie erzählt, ist eigentlich eine Geschichte vom Ende der DDR. Das fängt in Scheibes Geschichte 1969 an. Es ist der Moment, in dem sich die Schwalbe und die DDR von der Höhe der Zeit verabschieden. In dem die DDR-Wirtschaft zurückfällt hinter den Westen. Die Techniker bei Simson haben 1969 den Schwalbe-Nachfolger Supra entworfen, mit allen technischen Fortentwicklungen, die zeitgemäß waren. Ab 1974 hätte die Supra in Produktion gehen können. Ging sie nie. Das Geld fehlte. Also wurde die Schwalbe weiter gebaut.
Trotzdem bemühte sich Simson um Anpassungen an den Fortschritt, state of the art, würde man heute sagen. Aber es änderte sich nicht viel. Der Motor blieb bis zum Ende zwischen den Trittbrettern, da hatte er seit den siebziger Jahren schon nichts mehr zu suchen, state-of-the-art-mäßig. Auch die Räder waren immer untypisch groß für einen Roller, deswegen ist die Schwalbe auf dem Land so beliebt, wo die Straßen schlecht sind und es viele Äcker gibt. Und in der Stadt war die Schwalbe nicht besonders attraktiv. Dass bei Simson am Ende nur noch für die Schublade weiterentwickelt wurde, lag an den Grenzen der DDR-Wirtschaft. Preiswert und effizient war es, wenn die Teile austauschbar zwischen den einzelnen Produkten waren. Mangelwirtschaft bedeutete Standardisierung auf niedrigstem Niveau.
Der Schwalbe kommt das heute zugute. Genauso wie ihre Omahaftigkeit. Weil es kaum Elektrik gibt, fällt die Reparatur leicht. Was für Scheibe in der DDR ein Ärgernis war, ist nun von Vorteil. Auch dass die Schwalbe über all die Jahre kaum verändert wurde. Sie hat einen Stil konserviert, den man wieder entdecken kann. Die Schönheit der sechziger Jahre, die im Suhler Stadtbild unter dem Gebäudeauflauf verschwindet. Das ist das, was den Westen nostalgisch stimmt. Dass etwas aus Mangel überlebt hat, das aussieht wie ein Schatten der Kindheit. So wird aus der Omahaftigkeit eine Vespahaftigkeit. Vespa, Italien, dolce vita, ist klar. Wiederentdecken kann man nur, was die meisten übersehen. Die Erinnerungen, die die Schwalbe heute bei einstigen Besitzern hervorruft – das sind jetzt die Meinungen aus dem Osten –, sind nicht immer sentimental. Eher komisch. Staunend. Mit so was sind wir mal zur Ostsee gefahren. Das olle Ding. Aber das Ding muss oll sein, damit man zu seinem Liebhaber werden kann.
Der Liebhaber ist ein irgendwie reifer gewordener Mann. Das mit dem Übermut hat sich erledigt. Der Schrauber, der kein Kind von Traurigkeit war, käme sich heute albern vor, mit breitlenkrigen Enduros durch die Stadt zu heizen. Nicht nur die Männer sind älter geworden, auch die Vorstellungen von Männlichkeit haben sich differenziert. James Dean ist lange tot, Marlon Brando auch. Die Schwalbe düst weiter, und man muss sich nicht einmal drunterlegen, wenn das Gas klemmt, Benzin tropft. Selbst dieses Glaubwürdigkeitsdefizit lässt sich mittlerweile überbrücken. Wo Mangelwirtschaft war, ist Dienstleistungsgesellschaft. Schrauber sind zwar immer noch beliebte Leute. Aber das Mädchen-Beeindrucken, wenn’s darum geht, funktioniert auch ohne dreckige Hände. Nicht roh und direkt, eher so ein Mädchen-Beeindrucken mit Abitur.
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Die dritte Geschichte ist wieder kurz. Es geht um die Zukunft. Ob er sich die E-Schwalbe als Erfolgsgeschichte vorstellen kann? Museumsleiter Scheibe ist skeptisch. Beim VW-Beetle, der Neuauflage des Käfers, habe es zwei Jahre einen Run gegeben, dann sei das Interesse verkümmert. In einem Internetforum steht stellvertretend für die ganze Geschichte der Schwalbe, die das neue Gefährt nicht hat: „Auch wär die E-Schwalbe nicht all zu bastlerfreundlich.“ Es geht nicht um Weiterentwicklung, state of the art oder um so ein Wort-Ungetüm wie „emissionsfreie Elektromobilität“. Ging es noch nie.
Zumindest nicht bei der Schwalbe.
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