Fluchtmittel der Wahl

Porträt Klaus Staeck ist Präsident der Akademie der Künste und Bahncard100-Besitzer. Ein Gespräch im ICE zwischen Berlin und Heidelberg über Schneiderhan, Mehdorn und Köttbullar

Freitag, 16.28 Uhr, Berlin-Hauptbahnhof, Gleis 14. Wir sind mit Klaus Staeck für ein Gespräch verabredet. Es findet auch aus Zeitgründen im Zug statt. Staeck kommt aus der Akademie der Künste, drei U-Bahn-Stationen entfernt. Der Zug ist voll, deshalb gleich in den Speisewagen. Abfahrt 16.31 Uhr im ICE Richtung Mannheim.

Der Freitag: Sie pendeln zwischen Berlin und Heidelberg. Ist das Ihr bevorzugter Zug?

Klaus Staeck:

Das ist ganz verschieden. Ohne Sie wäre ich heute mit dem Sprinter gefahren. Das ist mein Zug, da brauche ich eine Stunde weniger.

Der Sprinter hält nicht zwischen Berlin und Frankfurt.

Da herrscht ein völlig anderes Klima. Die Leute wissen, sie sitzen jetzt vier Stunden in diesem Zug, ohne Rein-Raus. Dort herrscht Ruhe, Ausgeglichenheit, sehr angenehm.

Professionelle Bahnfahrer?

Vielleicht. Das Interessante beim Bahnfahren ist ja, dass man immer auf Leute trifft, bevorzugt im Speisewagen. Man hört Dinge, die man sonst kaum erfährt. Wenn sie denn wollen, reden Fremde mit Fremden. Und denen vertrauen sie oft mehr Geheimnisse an, als sie es in einem anderen Umfeld tun würden. Weil sie genau wissen, wenn man aussteigt, dann war’s das. Die Leute erscheinen mir offener als sonst.

Wen haben Sie denn getroffen?

Zum Beispiel Schneiderhan. Der saß mir einmal gegenüber, und ich entdeckte eine Ähnlichkeit mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr. Mein nächster Gedanke: Das kann nicht sein, dass der damals oberste Militär un­bewacht in der 2. Klasse eines normalen Zuges sitzt. Dann sah ich, wie er in Berlin von zwei Soldaten abgeholt wurde. Da war alles klar.

Ich hätte gar nicht gewusst, wie Schneiderhan aussieht.

Als Zeitungsleser hatte ich eine ungefähre Vorstellung. Das nächste Mal habe ich ihn im Speisewagen direkt angesprochen. Es kam schnell zu einem recht offenen Gespräch über Militär, Afghanistan und den Umgang mit Rechtsradikalismus. Als ich ihn später wiedertraf, fragte ich gleich: Nachher im Speisewagen? Wir waren so etwas wie eine Fahrgemeinschaft. Nach seiner ungerechtfertigten Ablösung durch Guttenberg ist das nun vorbei.

Fuhr Schneiderhan nach Bonn?

Nein. Nach Frankfurt.

Haben Sie Mehdorn mal getroffen?

Nicht im Zug. Aber einmal im Berliner Bahntower. Als leidenschaft­licher Bahnfahrer und jemand, der das Thema Ökologie nicht bloß als Floskel benutzt – die Mehrzahl meiner Plakate beschäftigen sich mit Umweltthemen –, kam mir eine Idee. Weil ich versuche, Lust aufs Bahnfahren zu machen, wollte ich der Bahnspitze eine Werbe­aktion empfehlen: „Wen man im Zug alles treffen kann.“ Ich hatte schon mit Mario Adorf, Dieter Hildebrandt und Günter Grass gesprochen. Auch Moritz Rinke fährt oft Bahn. Alle waren bereit. Das erzählte ich dem damaligen Transnet-Vorsitzenden, der dann ein Treffen zwischen Mehdorn, ihm und mir arrangierte.

Und wie war’s?

Ich habe selten an jemandem so vorbeigeredet wie an Mehdorn. Oder wir aneinander. Nach einer halben Stunde gaben wir auf. Vielleicht war es ein Fehler, dass wir nichts dafür haben wollten und ihm deshalb unsere Idee wertlos vorkam. Die Bahn sollte nur die Plakate drucken.

So stellt man sich Mehdorn vor.

Er dachte in anderen Kategorien. Nicht wie jemand, der gern Bahn fährt. Er hat es einfach nicht verstanden. Nach diesem Gespräch war mir mehr denn je klar: Das kann nicht gut gehen. Für mich ist Bahnfahren eines der letzten Gemeinschaftserlebnisse, das unterschiedliche Menschen verbindet.

Wir sitzen an einem Tisch im Speisewagen. Der Kellner kommt. Staeck bestellt Köttbullar und eine Apfelschorle. Er bedankt sich.

Wenn man eine Bestellung aufgibt und der andere hat sie notiert, bedankt man sich. Einmal hat mir ein Kellner in einem Speisewagen daraufhin gesagt: Sie brauchen sich nicht zu bedanken, mein Herr, ich mache meinen Beruf gern. Interessant. Wo waren wir?

Beim leidenschaftlichen Bahnfahren, das Mehdorn nicht verstanden hat.

Bahnfahren ist für mich, wie soll man es ausdrücken, eine Lebensform. Bei den Hamsterfahrten in meiner Kindheit fuhr man teilweise auf dem Puffer und klammerte sich an allem fest, was Halt bot, wie man das von Fotos aus Indien kennt. Es gab auch Situationen, dass man nur noch durchs Fenster reinkriechen konnte. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen. Schon deshalb nicht, weil die Fenster meist nicht mehr zu öffnen sind. Damals gab’s noch die 3. Klasse, die berühmte Holzklasse. Und es waren fast alles Abteile.

Die Apfelschorle kommt.

Danke. Es bildeten sich in der Regel sofort Gemeinschaften. Einer fing an zu erzählen oder reichte eine Flasche herum.

Abteile sind heute selten.

Ich will auch eher in den offenen Bereich. Früher war das Bahnfahren ein Erlebnisfahren, viele Leute freuten sich auf den unbekannten Nachbarn. Heute stellt man zuerst die Tasche auf den Nebensitz.

... und hofft, dass keiner kommt.

Oder signalisiert mit Kopfhörern: Bitte nicht stören!

Haben Sie den Eindruck, dass das mit den Ruhezonen funktioniert?

Nein. Was auch nicht funktioniert sind diese Komfortplätze. Ich habe mit meiner Bahncard100 einen Anspruch darauf. Das war übrigens meine Bedingung, als ich zum Akademiepräsidenten gewählt wurde: eine Bahncard100, 2. Klasse. Die 1. Klasse kann sich die Akademie nicht leisten. Es hat sich inzwischen voll ausgezahlt, weil ich ständig hin- und herfahre.

Hätten Sie lieber 1. Klasse gehabt?

Na klar, die ist schon besser. Auch weil man leichter einen Platz findet.

Ich hätte gedacht, bei Ihnen sei die 2. Klasse eine bewusste Entscheidung. Auch wirken die Passagiere in der 1. Klasse immer so traurig in ihrer Vereinzelung.

Sagen wir so: Ich käme mir komisch vor, wenn ich in der 1. Klasse sitzen würde. Manchmal wenn’s ganz voll ist, weil die Reisenden aus zwei Zügen zusammengepackt werden, wird ja schon mal die 1.Klasse geöffnet.

Man kann nicht über die Bahn sprechen, ohne von den Verspätungen zu reden.

Einmal habe ich eine interessante Durchsage gehört. Die üblichen kenne ich alle und kann sie übersetzen: Triebwerkschaden, der Streckenabschnitt vor uns ist besetzt, Weichenstörung. Leider heißt es oft: Personenschaden. Da weiß man, dass sich wieder jemand vor den Zug geworfen hat und es selten unter drei Stunden weitergeht. Einmal aber kam die Durchsage: Wir müssen noch warten, weil der Lokführer für unseren Zug in einem anderen, verspäteten Zug sitzt. Da haben alle etwas verzweifelt gelacht.

Ist eher selten.

Die meisten Bahnfahrer sind geduldig. Zwar gibt es immer einige, die ein großes Theater machen, wenn es 10 Minuten später wird. Inzwischen empfinde ich 10, 20 Minuten fast als normal. Schlimm ist, wenn man dadurch einen Anschlusszug verpasst.

Berlin-Heidelberg, da muss man einmal umsteigen.

Deshalb habe ich mir angewöhnt, oft einen Zug früher zu nehmen. Eine Konsequenz aus der Mehdorn-Zeit.

Zwei Frauen kommen an den Tisch und fragen, ob sie sich dazu setzen können.

Wir reden bloß die ganze Zeit, wenn Sie das nicht stört?

Die Frauen: „Wir reden auch.“

Gut.

Zum Leiden an der Bahn gehört ihre Wetteranfälligkeit, bei Hitze im Sommer und Kälte im Winter. War das früher anders oder hat man das bloß vergessen?

Früher machte man im Sommer das Fenster auf und setzte auf die Zugluft. Ganz einfach. Natürlich hat die Bahn große Probleme. Politisch setze ich mich dafür ein, dass sie endlich von der Mehr­wertsteuer befreit wird. Ein Wahnsinn ist doch, dass die perverse Inlandsfliegerei, eine der großen Umweltsünden, keine Steuern auf Kerosin zahlen muss.

Ob das Schimpfen auf die Bahn dadurch weniger würde?

Die Bahn bemüht sich schon. Es gibt auch Leute, denen fällt nichts Besseres ein als zu Schimpfen.

Vielleicht hat die Bahn die Funktion eines ungeliebten Chefs – alle können sich einig sein, indem sie auf etwas schimpfen.

Es gibt wenige Dinge, bei denen man sich so einig ist. Und wo findet man so viel Bestätigung wie beim gemeinsamen Schimpfen? Die Bahn ist ein idealer Blitzableiter. Leute stehen klaglos zwei Stunden im Stau und jammern, wenn der Zug zehn Minuten Verspätung hat. Das finde ich reichlich absurd.

Gleichzeitig will man die Bahn nicht in Schutz nehmen vor einer Kritik, die sie verdient.

Natürlich hat Mehdorn viel Unheil angerichtet, weil ihn dieser Wahn mit dem Börsengang getrieben hat: verlängerte Reparaturzeiten, keine Reserven aufgebaut, radikaler Personalabbau. Die Berliner S-Bahn ist ein abschreckendes Beispiel. Wenn nur noch auf Verschleiß gefahren wird, ist der Crash vorprogrammiert.

Also ist mit der Privatisierung nichts besser geworden?

Überhaupt nichts. Ich bin kein Anhänger von Privatisierungen. Die Bahn dient auch der Daseinsvorsorge. Deshalb sollte sie ein Staatsbetrieb bleiben, der funktioniert. Es ist kein Naturgesetz, dass ein Betrieb, der vom Staat verwaltet wird, schlechter sein muss. Es gibt das abschreckende Beispiel aus England. Dort hat die Privatisierung genau zum Gegenteil geführt. Die Betreiber haben rausgeholt, was rauszuholen ist. Am Ende hat die Allgemeinheit einen maroden Betrieb wieder am Hals.

Die Köttbullar kommen.

Nehmen Sie immer das?

Nein, zufällig. Ich verstehe auch Gastrokritiker nicht, die sich gelegentlich über das Essen hier lustig machen. Was erwarten die? Das ist ein fahrendes Restaurant. Man bekommt Fertiggerichte, die aufgewärmt werden. Ich stelle an die Bahn keine Gourmet-Ansprüche.

Wolfsburg, alle Anschlusszüge werden erreicht.

Müssen Sie raus?

Ich könnte noch bis Braunschweig mitfahren.

Bis Braunschweig ertrage ich Sie noch. Wir haben doch schon ziemlich viel geredet.

In der Tat. Was machen Sie auf ­ihren Reisen normalerweise?

Ich lese sehr viel. Zeitungen. Ich bin geradezu ein Zeitungsfresser. Ich nehme mir immer die Blätter der letzten Tage mit und werte sie aus. Als Zeitungsschnippler habe ich die Schere immer dabei. Und den Marker. Leider kann ich im Zug nicht schlafen. Ich beneide alle, die das können. Das wäre ideal. Den Schlafwagen habe ich nur ganz selten benutzt. Ich kann nicht schlafen, wenn man parallel zu den Schwellen liegt.

Müssen Sie in Fahrtrichtung ­sitzen?

Das ist völlig egal.

Arbeiten Sie im Zug?

Kleine Texte.

Auf dem Laptop.

Nein, ich schreibe alles mit der Hand. Sehr klein.

Lesen Sie Bücher?

Nicht in der Bahn. Was ich zusätzlich mitnehme, sind Akten aus der Akademie.

Fünf Stunden Ruhe am Stück hat man selten. Ich bin Anhänger der Schule, dass man eineinhalb Stunden Zeitung lesen kann. Dann muss Literatur her.

Hamburg-Berlin ist gut fürs Zeitungslesen. Oft flüchte ich auch regelrecht in die Bahn. Weg von dem einen Schreibtisch und an dem anderen noch nicht wieder ankommen. Das Handy funktioniert in Maßen.

Haben Sie einen Blick für die Landschaft? Gerade Frankfurt-Berlin hat seine Reize.

Doch, das gibt es auch, eine halbe Stunde nur rausschauen. Manchmal muss ich mich auch vor Leuten schützen, die mit mir reden wollen, aber ich nicht mit ihnen, weil ich einfach zu müde bin.

Würden Sie die Bahn auch so lieben, wenn Sie langsamer wäre?

Ich verfolge interessiert die Debatte um die Entschleunigung. Schließlich stecke ich selbst in einem Hamsterrad und wünschte, dass mal jemand Sand ins Getriebe dieser Einrichtung streut. Nehmen Sie den Wahnsinn Stuttgart21! Wenn die Bahn mir verspräche, sie wäre öfter pünktlich, bräuchte ich nicht die 20 Minuten an Zeitersparnis, die das unsinnige Projekt Stuttgart21 verspricht.

Reicht die derzeitige Stimmung aus, um den Börsengang nicht nur aufzuschieben?

Das überschätzt man. Die Menschen sind geduldig bis zum Geht-nicht-Mehr. Die meisten haben den Winter spätestens im Juli bei der nächsten Hitzewelle wieder vergessen. Wir leben in Zeiten allgemeiner Schizophrenie.

Durchsage: In Kürze erreichen wir Braunschweig.

Haben Sie Ihre Fahrzeiten im Kopf?

Für die wichtigsten Strecken schon. Wenn mich Leute fragen, wann fahren Sie, sage ich immer: Ich nehme den nächsten Zug. Das ist das Entscheidende bei der Bahn, man kann jederzeit einsteigen. Es wurde ja mal versucht, generell mit Platzkarten zu arbeiten. Aber so funktioniert Bahnfahren nicht. Ich kann und will mich nicht morgens um acht entscheiden müssen, den Zug nachmittags um vier zu nehmen.

Der Interviewer steigt in Braunschweig aus. Der ICE mit Klaus Staeck muss noch auf einen verspäteten Zug warten.

Das Gespräch führte Matthias Dell

Klaus Staeck wurde 1938 geboren und wuchs in Bitterfeld auf. Den dortigen Bahnhof hat er in lebendiger Erinnerung. Staeck lebt in Heidelberg, wo er 1965 den Produzentenverlag Edition Tangente gründete, der heute Edition Staeck heißt. Bekannt geworden ist Staeck als Plakatkünstler. Wie bekannt, erfährt er immer wieder auf seinen Bahnfahrten, wenn Unbekannte ihn ansprechen und ihm für seine politischen Plakate danken.

Die schönste Bahn-Geschichte ist die einer Verwechslung: Ein Passagier fragte Staeck, ob er Rolf Hochhuth sei. Staeck verneinte, der Mann ging in den Speisewagen, sprach dem Alkohol zu und erinnerte sich auf dem Rückweg sagte er zu Staeck nur: Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen, der Titel eines von Staecks populärsten Plakaten. Staeck ist bekennendes SPD-Mitglied, 2006 wurde er zum Präsidenten der Akademie der Künste gewählt. Seitdem ist er Inhaber einer Bahncard100.

Staeck schreibt auch eine Kolumne für die Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau. Einen ersten Entwurf verfasst er nicht selten im Zug.

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