Die fünfte Etage des Eckhauses Avenue de la République/Avenue Parmentier ist ein Adlerhorst. Man schaut von hier allerdings nicht auf Wälder oder Felder, sondern nur auf Verkehr. Denn die beiden Avenuen treffen vor dem Haus im elften Arrondissement mit der Rue Oberkampf zusammen. Das ist eine Art Fullhouse im Verkehrspoker: Zwei zweispurige Straßen kreuzen eine dreispurige.
Ich gehe raus und will sehen.
Zu sehen gibt es allabendlich eine Inszenierung, die "Rush Hour" heißt. Die Ouvertüre wird dieses Mal jedoch in fortefortissimo gegeben, weil die Ampeln ausgefallen sind. Rot, nicht gelb, blinken hier die mittleren Leuchten, was angesichts der drängenden Autoschar wie eine Kapitulation wirkt. Tief brummen die Bässe der Lastkraftwagen und die ebenfalls unteren Lagen der hochgetunten Motorräder, die wie Stiere auf dem Asphalt scharren. Darüber entspannt sich der vielstimmige Gesang der Hupen, nicht immer nur drängend, als ein langgezogener Ton. Mancher beginnt im hoffnungslosen Warten Leitmotive aus dem Fußballstadion in das kakophonische Konzert einzubringen. Nichts geht mehr, aus der Ferne tönt die kurzatmige Sirene eines Krankenwagens, die immer noch genauso hell und abrupt heulen wie in den Siebziger-Jahre-Filmen mit Michel Piccoli und Romy Schneider. Auf der Kreuzung stehen die Blechschlangen in sechs, sieben Reihen. Genau lässt sich das nicht sagen, weil hier auf Lücke gefahren wird; der geringste Platz wird umgehend bis zur nächsten Stoßstange gefüllt. Das Netz ist so engmaschig, dass selbst Fahrradfahrer und Mopeds in den Gängen zwischen den Autoreihen feststecken. Deutlicher kann man die absurde Redundanz eines Staus nicht illustrieren: Weil immer alle vorankommen wollen, kommt keiner wirklich voran.
Zwanzig Minuten nach diesem furiosen Auftakt trifft das Dirigententrio ein. Zwei Polizisten, der eine älter, der andere dicker, und eine Polizistin betreten pfeifend die Bühne des Straßenverkehrs. Zeitgleich gehen die Techniker hinter den Kulissen ans Werk: Aus einem blauen Kleintransporter steigen zwei Männer, um die kaputte Ampelanlage zu reparieren.
Die Polizisten verteilen sich entlang der Avenue Parmentier. Ganz hinten bezieht der ältere Ordnungshüter Stellung, im Vordergrund agiert die Frau, und in der Mitte herrscht der Dicke wie ein König. Er trifft die Entscheidung über Stop oder Go; dem müssen sich selbst blaulichterne Rettungsfahrzeuge beugen. Anstatt die Lage andante zu ordnen, drückt der Dicke unbeirrt aufs Tempo. Immer wieder schaut er auf die Uhr und treibt die Autofahrer heftig winkend an. Jede seiner Handdrehungen wird von einem kräftigen Pfiff begleitet. Er ist der Platzanweiser in diesem Zirkus Maximus. Im Bewusstsein seiner Autorität und zugleich mit der Vorsicht des Gefährdeten tänzelt er zwischen den wechselnden Strömungen. Mehrmals durchmisst er dabei die vieleckig-verzerrt daliegende Arena. Gezielt und mit erhobener Hand weist er die besonders gierigen Fahrer an, auf der Stelle zu verharren. Manche Wagen führt er so eng wie ein Dompteur den Tiger an der Leine. Der Alte, dem nur die Rolle des Assistenten zukommt, der jedoch die Lage am besten überblicken kann, versucht häufiger laut rufend einzuschreiten, denn das rüde Regiment des Dicken vermag das Chaos vielleicht zu lindern, nicht aber zu lösen. Einmal eilt der Alte in die Kreuzungsmitte, wie ein Linienrichter beim Fußball, der seinem Chef Bericht erstattet. Es nützt nichts, auch weil die Verkehrsteilnehmer wie unbelehrbare Schüler sind, die ihren Handlungsspielraum bis an die Grenzen austesten. An den Seiten der Autoschlangen drängen immer wieder Motorräder vorbei, jedes Weggucken der Polizisten bestrafen die Autofahrer mit anarchischen Manövern. Der Dicke setzt dem seine wilden "Allez-Allez"-Rufe entgegen. Seine Notstandsregelung sieht vor, dass bis auf weiteres nicht mehr abgebogen, die Kreuzungen also nurmehr in gerader Richtung überquert werden darf. "Par là, par là" ("Da lang, da lang"), schreit der Dicke entlang seiner Handbewegung. Den blickenden Autos erklärt er notfalls auch persönlich die neue Ordnung. Diskussion zwecklos. "Ist mir doch egal", brüllt er bärbeißig den Lamentierenden entgegen und schneidet jedes weitere Wort mit einer abfälligen Geste ab. Einmal wird der Dicke fast angefahren, weil er nicht aufgepasst hat. Das ist das Sonderbare am französischen Verkehrsgebaren: Trotz der fehlenden Ordnung kommt es eigentlich nie zu Zusammenstößen.
Vierzig Minuten dauert das Schauspiel. Dann ruft der Dicke ein kräftiges "Sandra" in Richtung seiner Kollegin und gibt ihr das Zeichen, zu gehen. Die Verkehrsregler räumen das Feld, ihre Sisyphos-Show ist zu Ende. Die Ampel funktioniert wieder, und der Berufsverkehr lässt langsam nach.
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