Am Montagabend wurde das 57. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm mit der Deutschlandpremiere von Laura Poitras’ lang erwartetem Edward-Snowden-Film Citizenfour eröffnet. Das wäre der nachrichtliche Satz, der die Realität einer solchen Veranstaltung aber nur unzureichend abbildet. Denn der Filmvorführung ging ein Programm voraus, das seine Eigenartigkeit nicht nur aus dem Umstand bezog, dass es als künstlerischen Beitrag das Spiel der Fujara präsentierte, einer traditionellen slowakischen Hirtenflöte, die man sich als Versöhnung von Didgeridoo und Fagott vorstellen kann.
Eigenartig ist vor allem die politische Repräsentation, die sich durch ein erwartbares Set von Reden mitteilt. Stadt, Land und Festival traten ans Mikrofon im Saal 8 des Leipziger Festivalkinos (in einen weiteren Saal wurde die Veranstaltung übertragen), wobei die Rede des scheidenden Direktors Claas Danielsen mit Abstand am interessantesten ausfiel. Danielsen verabschiedet sich nach zehn Jahren mit seiner elften Ausgabe, weshalb er verständlicherweise Zahlen aufbot, die Wachstum erzählen (kurz gesagt: hat sich alles verdoppelt). Seine Leistung bei der Modernisierung des Festivals mit der spezifischen Fenster-zur-Welt-DDR-Geschichte wird durch die Wahl der Nachfolgerin wohl am besten gewürdigt: Die Finnin Leena Pasanen steht für Vernetzung und Internationalisierung, also die Fortführung und den Ausbau von Branchenverknotungen wie dem Co-Production Market, die für die Bedeutung des Filmfestivals womöglich wichtiger sind als präzisest kuratierte Programme.
Aufrüttelnde Grußworte
Bemerkenswert macht Danielsens Rede aber erst die Kritik an den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern. Die ist so berechtigt wie geläufig, sodass es origineller Formulierungen bedarf („Wagen Sie mehr Experimente, damit Ihnen die Arbeit auch wieder mal Spaß macht“) und aktionistischer Vorschläge (dass Dokumentarfilme eine Möglichkeit wären, in Zeiten der Rückstellungen für Pensionszahlungen günstig Programm zu machen), um nicht als verbiesterter Dauerquerulant dazustehen. Dass das nicht davor schützt, routiniert über den Kopf gestreichelt zu bekommen für ein bisschen Getobe, illustrierte Ministerialdirigent Thomas Früh, der für das Land Sachsen bereits frohlockte („Bin gespannt“), was Danielsen wieder für ein „aufrüttelndes Grußwort“ halten werde.
Das Aufrütteln führt unmittelbar zu Edward Snowden, der in gewisser Weise die vierte Rede des Abends hielt: Er hat, anders als für die Weltpremiere des Films in New York und weitere Aufführungen in den USA, eigens eine Videobotschaft aufgenommen, weil „die Geschichte der Stadt Leipzig Inspiration“ für ihn war: „Gewöhnliche Menschen, die sich gegen außergewöhnliche Macht gestellt haben.“ Snowdens Motivation für das Aufdecken der NSA-Überwachung, seine politische Agenda ist, wie er auch im Film ausführt, die Balance der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse: Politiker legitimieren sich durch die Menschen, die sie wählen.
Wenn die auftretenden Politiker (neben Früh der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung) schon auf die Geheimdienstüberwachung schauen wie gewöhnliche Mediennutzer (Früh: „Wer weiß, ob alles aufgedeckt ist“), also ihren Anteil an politischer Gewalt gar nicht reflektieren, dann könnten sie sich zumindest pragmatisch fragen, wie sich Vertreter der öffentlichen Hand auf Veranstaltungen gerieren sollten, deren Förderung ihre Arbeit ist. Snowdens unprätentiöse Smartness kann hier auch rhetorisch Vorbildwirkung entfalten, zumal niemand Standortmarketingslogans („Schönes Kulturland Sachsen“) und Referententextbausteine hören will – gerade wenn dem Eröffnungsfilm entgegengefiebert wird wie selten einem Dokumentarfilm und schon lange nicht mehr einem Auftakt beim Leipziger Festival. Am Ende gab es zwar erkennbar mehr Applaus als den ganzen Abend über, aber keine Ovationen wie in New York. Citizenfour mit einem in seiner Reife beeindruckenden Edward Snowden ist wohl mehr Ereignis als Erlebnis, weil der Film im Grunde nur zeigen kann, was bereits bekannt ist. Alles andere würde der Logik des Enthüllungsjournalismus widersprechen.
Laura Poitras erzählt mit großer Ruhe – man könnte auch sagen: Vorsicht – und chronologisch. Das heißt, sie vollzieht mit getipptem Chat auf schwarzem Grund nach, wie sie zu der Erzählung kam, die sie mit dem folgenden Film bezeugen wird: dass die anonyme Quelle, die an sie herangetreten war und deren Namen heute jeder kennt, auf ihre Frage, warum ausgerechnet sie als vertrauenswürdig ausgewählt wurde, antwortet, sie habe sich selbst gewählt.
Angespielt wird damit auf die dokumentarischen Arbeiten von Poitras, die sich kritisch mit den USA nach 9/11 auseinandersetzen. In My Country, My Country von 2006 zeichnete sie ein vielstimmiges, differenziertes Bild über den Irak vor den Wahlen und unter amerikanischer Besatzung. The Oath von 2010 handelte dann über al Qaida und Guantanamo durch das Porträt Abu Jandals, eines ehemaligen Mitarbeiters Osama bin Ladens, der seine radikalen Positionen revidiert hat.
Sequel der Geschichte
In beiden Filmen operierte Poitras wie unsichtbar: Aufnahmen aus dem Taxi, mit dem Abu Jandal seinen Lebensunterhalt verdient, lieferte etwa eine kleine Kamera, die in Höhe des Rückspiegels filmte. Wenn in Citizenfour nun die Geschichte aus dem Hotelzimmer in Hongkong gezeigt wird, die Anfang Juni 2013 zu den NSA-Veröffentlichungen von Glenn Greenwald führte, kann man sich nach Poitras’ Autorenposition in einem Film fragen, in dem andere (Greenwald und der Guardian-Journalist Ewen MacAskill) Snowden interviewen.
Zumal der Film absichtsvoll jegliche Historisierung vermeidet, weil er den NSA-Skandal nicht als abgeschlossene Geschichte erinnern will. Poitras erzählt im historischen Präsens („Ich reise nach New York und warte auf weitere Anweisungen“) und schneidet kurz vor Schluss noch einmal eine Mail Snowdens aus dem Anfangskontakt vom April 2013 ein. Dann folgt der Epilog als Cliffhanger, ein jüngeres Treffen zwischen Greenwald und Snowden, bei dem Letztgenannter über die aus Konspirationsgründen aufgeschriebenen neuen Informationen des Journalisten die Augenbrauen hebt. Die aktuelle Nachricht, das FBI habe einen zweiten Whistleblower enttarnt, passt in die Logik des Erzählens.
Citizenfour ist ein Dokumentarfilm, der oft im Kino war. Den Thriller der 70er Jahre füllt er mit Wirklichkeit auf (wenn im Hotel der Feueralarm losgeht, macht sich kurz Paranoia breit), und er emotionalisiert, wenn auch sehr zurückhaltend, den zarten Helden Snowden, der im Zuge der Veröffentlichungen mit Privatgeschichten nicht vom Skandal ablenken wollte. Am Ende gibt es gar die Ahnung einer Love Story (Snowden kocht mit Freundin Lindsay) und eben die Szene mit Greenwald über die neue Quelle, in der das Sequel schon angelegt ist. Es muss weitergehen – schon, um nicht zu resignieren.
Citizenfour Laura Poitras D/USA, 114 Minuten, Kinostart am 6. November
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.