Kein Mensch braucht Reinhold Beckmann. Am wenigsten die, die ihm allmontäglich gegenübersitzen. Beckmann ist kein Gesprächspartner, sondern ein Stichwortgeber, der anstatt Fragen zu stellen Halbsätze formuliert, die seinen Gegenüber dahin führen sollen, wo ihn die öffentliche Wahrnehmung immer schon gesehen hat. Was ihm an ehrlichem Interesse an seinem Gesprächspartner mangelt, versucht Beckmann mit raunender Stimme und investigativem Fingerreiben zu überspielen.
Nun scheint es müßig, einen Journalisten-Darsteller wie Beckmann mit einem Journalisten wie Günter Gaus zu vergleichen. Interessant ist es allein deshalb, weil man dabei sehen kann, wie das Fernsehen und sein Publikum sich verändert haben. Politiker und andere prägende Gestalten der Gegenwart, die in früheren Tagen gegenüber von Günter Gaus Stellung hätten beziehen müssen, nehmen heute bei Beckmann Platz. Das zeigt - ganz lapidar - den Unterschied. Wie groß er ist, kann man jetzt dank eines zweiteiligen DVD-Sets ermessen, das 15 Gespräche enthält, die Günter Gaus in den sechziger Jahren geführt hat.
Über 40 Jahre hat Günter Gaus bei wechselnden Sendeanstalten Zeitgenossen interviewt. Der Minimalismus von Studio und Kameraführung ist im Bild vom "bekanntesten Hinterkopf des deutschen Fernsehens" ein Label geworden, was darüber hinwegtäuschen kann, dass die äußere Kargheit der Inszenierung nicht als Unterscheidungsmerkmal im Rausch der Fernsehbilder gedacht war. Hat man sich die 15 Stunden Interview angesehen, begreift man von neuem, dass der leere Raum und alle Aufmerksamkeit für den Gast unabdingbare Voraussetzungen für das aufklärerische Ansinnen von Gaus´ Gesprächsreihe waren. Nur im Schwarz des Studios erscheint jene Klarheit möglich, in der man dem Denken beim Reden zuschauen kann. "Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken", sagt Helmut Schmidt einmal auf eine Frage, und es folgt tatsächlich eine Pause in einem Medium, das nur funktioniert, wenn es ohne Unterbrechungen funktioniert. Wo Beckmanns bunte Welt immerfort das Entlegendste miteinander verpappt in dem Glauben, dass Richard von Weizsäcker in einem neuen Lichte erscheinen könnte, wenn man ihm schließlich unbedarfte Popsternchen zugesellt, verkleben bei Gaus bekanntlich nicht einmal die Konsonanten s und t. Seine Fragen, deren Struktur geordnet ist wie ein Gesetzbuch ("Daraus ergeben sich für mich zwei Fragen", "Darauf werden wir später noch zu sprechen kommen, an dieser Stelle interessiert mich") stellt Gaus mit einer Präzision, die sich manchmal mit Müdigkeit verwechseln ließe, weil sie stimmlich auf jede Dramatisierung verzichtet. Solcherart zielt Gaus auf das Naheliegendste: ein Portrait des Gegenübers. Tatsächlich hat man nach beinahe jedem Gespräch das Gefühl, eine Person, von der man dieses und jenes wusste, nunmehr zu kennen; ganz so, als habe man eine differenzierte Biografie gelesen. Das Wechselspiel von Understatement und Arroganz bei Helmut Schmidt, der Kleinmut von Konrad Adenauer, der abgekämpfte Idealismus von Gustav Heinemann, die herausfordernde Schwermut Golo Manns - das alles ist einem nie bewusster geworden als in den Gesprächen, die Gaus mit ihnen geführt hat.
Dessen biografische Annäherung ist nicht auf Anekdoten aus Kindheitstagen aus, sie orientiert sich an der Überlegung, wie jemand wird, was er ist. Ludwig Erhard antwortet in der ersten Sendung auf die lange schöne Frage: "Was hat sie davor bewahrt, der Versuchung zu erliegen, durch eine Beteiligung, ihre Karriere unter den Nazis zu fördern", mit einem entschiedenen "Nicht weniger wie alles". Bei Franz-Josef Strauß wird dagegen der Widerspruch zwischen Werden und Sein deutlich, wenn er aus - antinationalsozialistischem Hause stammend - in seiner Jugend die geschürte Angst vor dem Bolschewismus als reine Mache durchschaut, sich nach dem Einmarsch der Sowjets in Ungarn 1956 ihrer aber selbst bedient. Eine zentrale Frage ist für Gaus, wie weit der Schatten reicht, den die Herkunft auf die gesellschaftlichen Eliten der jungen Bundesrepublik wirft. Während Wehner und Strauß behaupten, frei zu sein vom Gefühl anhaltender Zurücksetzung ob des kleinbürgerlichen Milieus, aus dem sie stammen, erscheint Willy Brandt schmerzhaft ehrlich, wenn er bekennt, dass er diesen Unterschied zu Politikerkollegen mitunter als "bedrückend" empfindet. Umgekehrt fällt es Helmut Schmidt oder Rudolf Augstein sichtlich schwer, von dem Privileg zu abstrahieren, das ein besser situiertes Elternhaus für ihren Platz auf der Welt bedeutet hat. Der Spiegel-Chef reagiert gereizt und vergisst das verabredete "Sie" mit seinem damaligen Chefredakteur: "Günter, ich fürchte, du willst darauf hinaus, dass der Spiegel besser geworden ist, seit du zu uns gekommen bist."
Fehl gefürchtet. Gaus geht es nicht um persönliche Eitelkeiten, nicht um billige Überzeugungen und auch nicht darum, Recht zu haben. "Ich will mit Ihnen nicht diskutieren", ermahnt er Strauß gleich zweimal und meint damit doch eigentlich sich. Höflichkeit als Mittel zur Disziplinierung. Denn die größte Fähigkeit des Günter Gaus ist die immer währende Selbstverpflichtung zur Parteilosigkeit. Der Interviewer Gaus ist ein distanzierter Arzt, der Fragen verwendet wie ein Kontrastmittel, um dem Zuschauer die Diagnose zu überlassen über den politischen Gesundheitszustand seiner demokratischen Repräsentanten. Gegenüber Rudi Dutschke insistiert er auf den Zweifeln an dem Erfolg einer Revolution des menschlichen Bewusstseins, um im Angesicht Augsteins nach dem Punkt zu suchen, "wo man nicht mehr relativiert", nach einer Haltung, wie etwa Dutschke sie entschlossen vertritt.
Gaus zweites großes Thema neben den ungleichen Voraussetzungen für eine Staatsform, die an Gleichberechtigung glaubt, ist das Misstrauen in jede Form von Ideologie. Sein Begriff vom Politik ruht auf diesem Grundsatz, von dem aus er das Geschäft der Demokratie auslotet zwischen den Zwängen ihres Alltags und dem Ideal, das man von ihr hat. In der Wiederholung mit wechselnden Gästen wird sichtbar, dass Gaus´ Neutralität im Prinzip der Luxus einer Selbstbefragung ist: Was er von seinen Gästen wissen will, ist für ihn die Arbeit an den Dilemmata des bundesrepublikanischen Systems, in dem der kritische Bürger Gaus seine eigene Biographie und Position fortwährend überprüft, auch wenn die Widersprüche geringer scheinen als in einer Diktatur egal welcher Ideologie. In diesem Sinne könnte man Gaus eitel nennen.
Dass die Interviews von Gaus trotz aller Nüchternheit das Fernsehen brauchen und nicht gedruckt oder im Rundfunk gesendet eine ähnliche Beredsamkeit entfalten würden, hat seinen Grund in dem Bild, das die Befragten neben der Darlegung ihres Denkens abliefern. Man muss dabei nicht einmal die Rührung von Wehner meinen, wenn er von seiner Mutter redet, die bemüht aufrechte Sitzhaltung von Brandt oder den gutgelaunten Charme von Strauß, der jede Kritik im Witz aufheben will; eine Abschweifung, die Gaus nicht durchgehen lässt, wenn er trocken die eigentliche Frage noch einmal stellt ("Warum haben Sie Kapfinger nicht verklagt?"). Es reicht der Blick darauf, wie geraucht wird. Erhard pafft pausenlos, was Gaus irgendwann zu der Frage veranlasst, wie viel der Minister eigentlich rauche. "Na, so von früh bis abend." "Und was sagt ihr Arzt dazu?" "Der hat sich dran gewöhnt". Bei Strauß wirkt das Zigarrerauchen ob seines häufigen Hustens dagegen aufgesetzt, Hannah Arendt klemmt die Kippe in lässiger Männlichkeit zwischen den Lippen. Während Heinemann und Brandt ihr angezündetes Streichholz beinahe zu vergessen scheinen, der eine aus Versunkenheit, der andere aus Aufregung, demonstriert Schmidt Überlegenheit, indem er die Zigarette in aller Ruhe entzündet, bevor er seine Antwort formuliert. Die sanft-bestimmte Dorothee Sölle vergisst über dem Gespräch, an ihrer Zigarette zu ziehen, und Golo Mann raucht nicht.
Das schönste Gespräch, hat Günter Gaus in einem Interview mit der Zeit ein halbes Jahr vor seinem Tod gesagt, sei das mit Hannah Arendt gewesen. Dem möchte man beipflichten, allein weil Hannah Arendt bereits 20 Jahre nach Hitlers Ende in ihrer nüchternen Beurteilung des Umgangs mit dem Problematischen an der deutschen Vergangenheit um so vieles weiter ist als beinahe jede heutige öffentliche Diskussion darüber. Das Gespräch ist vor allem deshalb ein Genuss, weil man Gaus, der sich zuvor in aller Strenge mit Strauß, Schmidt oder Adenauer herumplagen musste, plötzlich als zurückhaltenden Charmeur erlebt, der beeindruckt, ja verliebt scheint in die charismatische Frau, die abwechselnd lacht oder Gedanken verloren ihre Nägel prüft. Hannah Arendt erzählt, dass sie mit 14 Jahren Kant gelesen habe, darauf unterbricht Gaus sie: "Respekt." Hannah Arendt: "Nee, Nee..." Gaus: "Ja, doch". Hannah Arendt: "Na, gut."
In dem Interview mit der Zeit wurde übrigens gemeinsam mit Günter Gaus auch Reinhold Beckmann befragt. Am Ende erlaubt sich Gaus die Frage, ob Beckmann sich gelegentlich langweile während eines Gesprächs. Beckmann, ganz eifriger Opportunist: "Nie." Gaus dagegen gesteht, dass es ihm häufiger passiert sei. Und so gestehen wir, so schwer es auch fällt, dass wir mit Blick auf die vorliegenden 15 Gaus-Gespräche in punkto Langeweile Reinhold Beckmann zustimmen müssen. Zu unserem Glück.
Günter Gaus: Die klassischen Interviews. Hrsg.: Manfred Bissinger. SWR und ZDF. A: Politik, 5 DVD, 99 EUR; B Politik Kultur, 3 DVD, 49 EUR. Verlag Film 101, München 2005
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