Grenzverletzung

IM KINO Leander Haußmann ist nicht der Erste, dem es misslingt, vom Mikrokosmos NVA im Mikrokosmos DDR zu erzählen

Die Geschichte des NVA-Films ist eine Geschichte des Scheiterns. Der NVA-Film kann als Subgenre jenes Kinos gesehen werden, dass sich in den letzten fünfzehn Jahren an einer filmischen Verständigung über die DDR versucht hat. Sein Los ist ein dialektisches. Er kann erst auf den Plan treten, nachdem die Versuche, von der DDR in toto zu erzählen, unternommen worden sind, erscheint dann aber in logischer Zwangsläufigkeit. Je weiter sich Erinnerung von dem Gegenstand entfernt, den sie erinnert, desto offener wird sie für partikulare Wahrnehmungen dieses Gegenstands. Der Tag wird kommen, an dem der nimmermüde Guido Knopp in seinem aufopferungsvollen Kampf für die stete Gegenwart des Dritten Reichs auf unseren Fernsehschirmen tatsächlich bei Hitlers Hunden angelangt sein wird, genauso wie der MDR, wenn alle Leibwächter befragt, alle ZK-Wochenendhäuser abgefilmt sind, irgendwann bei Honeckers Tischbesteck landen muss. Die Geschichte ist, zumindest außerhalb ihrer wissenschaftlichen Qualität, eine endliche Ressource.

Vom NVA-Film lässt sich sagen, dass sein historischer Vorteil - Teil der Erinnerungsmasse DDR gewesen zu sein - zugleich sein künstlerischer Nachteil ist. Er laviert auf der Grenze zwischen Filmen, die sich der Armee als Institution genähert haben, und eben denen, die DDR als Geschichte betrachten wollten. Die NVA war auch nur eine Armee, aber sie war in erster Linie die Armee der DDR. In den Mikrokosmos der Kaserne, die das Außen nur vom Briefeschreiben kennt, muss immer auch der Mikrokosmos DDR hineinragen. Dieses Dilemma hat in Olaf Kaisers Film Drei Stern Rot (2001) zu einer stilistischen Verwirrung geführt, die das Thema mal historisch und mal psychologisch anpackt. Am Ende steht die Frage, ob die Nationale Volksarmee aufgrund ihrer Abgeschlossenheit gegenüber der Gesellschaft überhaupt als Schauplatz für eine historische Auseinandersetzung taugt.

Eine befriedigende Antwort darauf hat weder Karsten Laskes Film Hundsköpfe (2003) geliefert noch die Dokumentation Grenze (2004) von Holger Jancke, der bereits das Drehbuch zu Drei Stern Rot verfasst hatte. In Hundsköpfe treffen vier vormalige Soldaten zum beruflichen Minensuchen erneut aufeinander und unter ihnen alte Konflikte wieder aus, die in der Frage kulminieren, was mit dem einstigen fünften Freund geschah, der bei einem Fluchtversuch ums Leben kam. Dessen damalige Freundin, heute mit einem der vier Minensucher verheiratet, hat zudem ihre Stasi-Akte eingesehen. In Grenze besucht Jancke gemeinsam mit vier Wehrdienstleistenden von einst die Orte des gemeinsamen Dienstes an der Waffe. Beiden Filmen ist die persönliche Nähe ihrer Autoren zum Thema anzumerken, aber beide Filme scheitern daran, diese tiefe Erfahrung in erfahrbare Tiefe zu übersetzen. Das Drama, das vor dem Hintergrund NVA erzählt werden könnte, wäre der Druck, dem der Mensch im geschlossenen System Armee ausgesetzt ist und der im Falle NVA die allgegenwärtige, unsichtbare Repression des SED-Staats komprimierte. Von diesem Konflikt teilt sich im Nachhinein von Hundsköpfe und Grenze wenig mit. Er bleibt das Geheimnis der jeweiligen Protagonisten und der Zuschauer außen vor. Bei Hundsköpfe weist den Betrachter die ostentativ inszenierte Kumpelhaftigkeit unter den Minensuchern in die Distanz, bei Grenze die Maulfaulheit der Interviewten, die schon wissen, was sie meinen, wenn sie nicht davon berichten. Exemplarisch wirken "Boja", "Lohengrin", "Mückfried" und "LSD-Wölfi", die gern zitierten Spitznamen von Janckes Interviewpartnern, als erratische Siegel eines privaten Erinnerungsbuchs.

Nun hat Leander Haußmann sich des Themas angenommen, und der Untertitel seines Films NVA (Von der Sonnenallee in die Volksarmee) berechtigte zu einiger Hoffnung, wenn man darin mehr als den bloß gut verkleideten Verweis sehen wollte, dass der Theaterregisseur Haußmann 1999 im Kino mit Sonnenallee debütierte. Wie keinem anderem Film ist es Sonnenallee gelungen, das Bild des Alltags in der DDR zu zeichnen, das Private und Politische einer sozialistischen Jugend zu verknüpfen, ohne in trotzige Ostalgie zu verfallen oder pädagogische Betroffenheit. Sonnenallee hat die DDR durch den Witz betrachtet, der in den absurden Zügen ihrer Organisation lag, ohne den Schrecken zu verkennen, der dadurch legitimiert wurde. Der Schatten der NVA reichte in die Jugend des Michael Ehrenreich, der wie seine Freunde bereits in der Schule mit der Frage konfrontiert wurde, wie lange er sich zum Armeedienst verpflichten wolle. Insofern hätte es in der Logik einer ostdeutschen Bildungsgeschichte gelegen, die Protagonisten aus Sonnenallee bei ihrem Weg durch die folgende Institution der DDR-Gesellschaft zu begleiten. Das hat Haußmann gemeinsam mit Drehbuchautor Thomas Brussig nicht getan. NVA hat mit Sonnenallee nichts zu tun, und damit ist eigentlich alles gesagt.

Der Film zeigt eine Gruppe von jungen Soldaten, die um die blasse Hauptfigur Henrik Heidler (Kim Frank) nach erwartbaren, DDR-spezifischen Boy Group-Kriterien angeordnet sind: ein pfiffiger Haudrauf (Oliver Bröcker), ein gemütlicher Dicker (Daniel Zillmann), ein linientreuer Opportunist (Philippe Graber) und ein christlicher Opponent (Robert Gwisdek). Was der Film aus dieser Konstellation macht, ist nicht mehr, als jeder Fernsehkomiker zustande bringen würde. Sketch an Sketch und hält doch: eine Buddy-Parade des Kasernenwitzes, in der das, was einmal Entwicklung hieß und die unverbundenen Einzelteile mit Sinn unterlegen sollte, in Nebensätze ausgelagert ist. Tatsächlich ist es relativ egal, ob der scheue Heidler seine Freundin draußen an seinen besten Freund ebenda verliert, weil man von seinem Liebeskummer sowieso nichts mit- und die Freundin nie zu Gesicht bekommt. Oder ob er sich neu verliebt in die Tochter des schmallippigen Oberst (Detlev Buck), weil das auch nur ein Grund ist, sich bei dessen ulkiger Geburtstagsfeier zu betrinken. Heiter ist das Armistenleben: Die Vorgesetzten sind streng und schwul, die älteren Kameraden sadistisch und gemein, aber am Ende war alles halb so schlimm, weil man ja irgendwie ganz dufte Kumpels hatte. Das alte Lied.

Haußmann fällt bei NVA in das Grab, das er sich mit Sonnenallee selbst geschaufelt hat. War das Wohltuende und Überraschende an Sonnenallee, das der Film mit Humor ein Thema befreite, das bis dato im Schwitzkasten biederen Ernstes feststeckte, kann man an NVA sehen, was - ein paar Epigonen später - mit Ironie geschieht, die keinen Widerpart mehr hat. Sonnenallee hat in seiner eingestandenen Künstlichkeit vorgeführt, dass man historische Genauigkeit bewusst torpedieren kann, ohne Wahrhaftigkeit einzubüßen. Bei NVA mit der "Fidel-Castro-Kaserne", den erstaunlich lockeren Umgangsformen, die man eher bei der Bundeswehr vermutet hätte, und den sauberen Plansequenzen (Kamera: Frank Griebe), die nicht im mindesten an den Stil erinnern, den man aus dem ostdeutschen Film kennt, ertappt man sich bei der Frage, die man sich spätestens seit Good bye, Lenin nicht mehr stellt: War das wirklich so? Darum geht es natürlich nicht, aber das es darum nicht mehr geht, ist auch ein Beleg für die Überflüssigkeit dieses Film. Alles egal, solange ein Gag herausspringt.

Worum es geht, kann man am Ende des Abspanns erahnen. Da taucht ein Bild von Leander Haußmanns Rekrutenausweis auf, das - statt den persönlichen Bezug zum Stoff zu bezeugen - eitel auf den Privatismus dieses Erinnerungsprojekts verweist. NVA reiht sich damit in die Phalanx seiner Vorgänger ein, die es sich im Rückblick alle auf dem weichen Kissen der Verklärung bequem machen, dass eine Zeit so schlimm nicht gewesen sein kann, in der man so nette Kumpels hatte. Bezeichnenderweise wird auch bei NVA das Drama der Armee in der DDR ausgespart: Die Erziehung des Aufmüpfigen, das "Rundmachen", findet außerhalb statt, von wo er als stumpfe Maschine zurückkehrt.

So gesehen ist die Geschichte der NVA noch immer nicht erzählt worden. Ob sie das wirklich muss, ist allerdings zu bezweifeln.


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