Der Anfang, die Musik (Sven Rosenbach und Florian van Volxem) allein; München von oben, die Skyline zusammengeschwenkt und -geschnitten, da rein, in den Himmel über der Stadt, die Hauptrollendarsteller geblendet wie im Serien-Style der spätsiebziger, frühachtziger Jahre, als das eben technisch möglich war. Und da drunter diese Musik: philipglassöses Georgel, Powerstreicher, rauf und runter, und dann landet auf den Flügeln der Engelschöre so was andeutungsdallashaft Bestimmteres in dieser Stadt, in diesem Raum.
Mjunik, Mjunik, Mjunik. Dominik Graf ist ein Raumdeuter (Kamera: Alexander Fischerkoesen), die Stadt spielt tatsächlich eine Rolle im Film, dieses München, das Westend, das alte Arbeiterviertel, die Gollierstraße, mit der Distinktion zu betreiben zwischen Oben und Unten noch easy war, als der Allergrößte hier ermittelte. Und das jetzt von dieser Neuartigkeit, dem Gang der kapitalistischen Dinge, der Gentrifizierung durchgeputzt werden soll. In anderen Sonntagabendkrimis sehen Schauplätze so aus wie die Angabe im Drehbuch, Außen/Nacht Straße, hier ist alles so eigen: das rostige Geländer an der kleinen Treppe im Hof zur Wohnung von Angelina Winkel (in den spätsiebziger, frühachtziger Jahren wäre das Olivia Pascal gewesen: Victoria Sordo), die suburban-wellblechcenterhafte Anlage des palmenumstandenen Casino-Kastens, in dem den Informanten und Kleingangstern auf den Zahn gefühlt wird, der Friseursalon vom – what a name! – Hem Staufacher (first time im Tatort seit der unehrenhaften Entlassung in Saarbrücken und vielleicht einen Tick zu outriert: Maximilian Brückner).
Die Dominik-Graf-Folge Aus der Tiefe der Zeit (Buch, die alte Schule: Bernd Schwamm) ist nervös von Beginn an. Der Franz (Udo Wachtveitl) wohnt nicht zu Hause wegen eines Wasserschadens, und der Umzug ist in die Wohnung vom Kollegen, "dem Manfred", wie es heißt, ist die Ankunft in einer neuen Welt, wo das Navi versagt und der Bankomat nicht zieht beziehungsweise kein Geld ausgibt. Nebenher rummst der Film die Spekulantenstory rein, mit diesen Untersuchungsausschusstableaus, in denen die Beteiligten von einer Renate-Künast-Stimme befragt werden und von der von Graf. Man versteht nicht viel, aber doch genug, um thrilled zu sein, es geht etwas vor, man muss es noch rausfinden.
Kaffee im Holzkühlschrank
Der Tatort braucht, ehe er in ein ruhigeres Erzählen findet, er ist ein Chamäleon, das ständig seine Farbe wechselt, er hat zu viele Anfänge: den Big-Mjunik-Aufriss, die Spekulantenstory, die Franz-Nervosität, die Magda-Holzer-Calamity-Jane-Western-Show-Nummer (Erni Mangold in einer Rolle wie ein Geschenk: Dafür ist der Film doch auch da, dass man sich in solch einen Privatkarneval hineinspinnt). Aber das macht nichts. Es geht doch auch immer darum, unsere Vorstellung davon auszumalen, was Film sein kann, was Tatort sein kann: Der Ivo (Miro Nemec) und der Franz sind die Anker im Meer der Gewohnheit, der Rest ein Sturm, der weit hinausträgt bis an die Grenzen des Formats. Dass der Ivo und der Franz ihren Kaffee im Büro in diesen Holzkühlschrank stellen, weil er zu heiß ist, der Kaffee, das wird auch nie wieder in der Reihe so sein.
Die Zuschauer, die machen, was die ARD von ihnen verlangt – sich abholen lassen, nicht überfordert werden wollen –, werden sich erbost abwenden und bei der Quote beschweren (beziehungsweise: die Quote würde dann so ausgelegt werden). Dabei braucht es solche Folgen, über die man reden und auch streiten kann, wenn man sich später die Tatort-Geschichte weitererzählt. Der Überschuss von Aus der Tiefe der Zeit ist das, wovon der Film eigentlich handelt. Wo anderswo nur dröge die völlig entkoppelte Informationsbürokratie bewältigt wird, die in der ARD heute als Fälle gelten und doch keine Geschichten sind, ist hier jede Szene ein Tor zur Welt: Wie diese Bauarbeiter da auf dem Holzer-Anwesen einen Hangschaden reklamieren in den Kommissarsbesuch hinein; wie die Kommissare immer die Mauer nehmen, um ins Anwesen reinzukommen; dieses Ledigenheim, in dem der Heesters (Branko Samarovski) schließlich wohnt und durch das so ein altgewordenes Fernsehgesicht wie das von Michael Schreiner führt (der dann auch noch Schiller zitiert); wie die Olivia-Pascal-Frau in der Tür steht und die Hand vorm Mund wedelnd nach draußen raucht.
Und das alles jagt die Kamera von Fischerkoesen so Dia-Show-Abend rein, die Bilder sind nicht aneinanderklebt nach Falzanleitung, damit ein sorgsam ausgeschnittener geometrischer Körper entsteht, sie sind vielmehr flach und schnell, als ob der Schnitt (Susanne Hartmann) ein dauernder, rasender Wisch ist, wie man ihn seit dem Smartphonebildschirmbetouchen verinnerlicht hat. Dazu diese Musik, die schön pfeift, wenn sie durch Staufachers Wohnung geht, oder romyschneiderisiert, wenn Liz "Taylor" Bernard (Meret Becker) vernommen wird zu ihren Yoga-Übungen.
Prolepse nach dem Po
Der Film ist sentimental, aber das steht ihm gut. Er träumt sich selbst als ein Kino des Fettigen, des Zuviel, in dem es dreckig ist und die Schminke verläuft. Er hört seinen schönen Sätzen hinterher: "Er war der Traurigste von uns allen" – dass das eben nicht nur gesagt wird, sondern auch verstanden vom Ivo, das ist sehr schön. Und er macht Witze, ohne mit der Wimper zu zucken: "Der Holzer hat dann noch Mund-zu-Mund-Beatmung versucht bei seinem Hund." Oder wie die Spurensichererin dem toten Hem Staufacher das Thermometer in den Po steckt. Aus der Tiefe der Zeit feiert sich selbst und ein scheinbar triviales Kino, auf das lauter Plakate zeigen, Spaghetti-Western, Gialli und am Ende im Ledigenheim bei Heesters auch noch Karl-May-Verfilmungen, was dann eben nicht banal ist, weil es um den Zusammenhang von Ex-Jugoslawien und Deutschland geht (hier: in der Kollaboration bei den Nazis), also den Landschaften, die nach dem Krieg in den Horst-Wendlandt-Atze-Brauner-Produktionen Amerika oder Anderswo darstellen sollten.
Und wie der Heesters das auf seinem Bett liegend dann erzählt (zum dritten Mal Untertitel in Folge – take that, Synchronisation!), den wahren, den einzigen Mord, der eben zurückreicht bis in die Nazi-Jahre (und da eine etwas seltene Fantasie ist: dass der Nazi enteignet werden kann), das ist von ganz anderer Tiefe als der Rätselsauflösungsbericht der Chinesische-Prinzessin-Assistentin letzte Woche. Die erklärte nämlich einfach, was noch fehlte an Geschichte, der Heesters macht dagegen noch mal ein Fass auf, was Graf dann schön auflöst mit dem Parallelgang ins Archiv mit seinem schweren Schränken.
Es ist nicht alles perfekt an Aus der Tiefe der Zeit, aber was misslungen ist, wenn man das überhaupt so sagen will, ist es auf eine interessante Weise. Kurz vor Schluss dann einfach noch mal abzukürzen mit einer Prolepse, also den Ivo und den Franz in dieser schönen Polizeitrainingsjacke da hinsetzen und berichten zu lassen vom Showdown im Hause Holzer, und gleichzeitig aufs Gas zu drücken mit diesem Irrsinn in Fahrstuhl und Pool, würde anderswo nackt da stehen. Hier hat die Szene Charakter.
Etwas, das man sich öfter von Kollegen sagen lassen sollte: "Du hast immer so saugute Ideen"
Etwas, das man öfter zu Kollegen sagen sollte: "Du, kannst du mir 'nen Fuffziger leihen"
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