Auch Häuser sterben. Die meisten werden abgerissen, ohne dass jemand Anteil daran nehmen würde. Andere, wie das Wüstenhotel am Ende von Michelangelo Antonionis Film Zabriskie Point (1968), werden zerstört zum Zeichen des Aufbruchs, als Akt einer ersehnten Befreiung. Wieder andere müssen verschwinden, weil eine neue Zeit sich ihren Weg bahnt. Die neue Zeit ist nur eine andere Zeit, die Hoffnungen, die sie verbreitet, sind schal geworden, ihren Raum fordert sie ein mit einer Mischung aus Vulgarität und Pflichtschuldigkeit. Am Anfang von Heiner Carows Film Die Legende von Paul und Paula (1973) wird ein altes, verfallenes Kino gesprengt; ächzend, staubend fällt es in sich zusammen. Das Kino hat für die Filmhandlung keine Bedeutung, es handelt sich um eine Marginalie, das Ende einer Geschichte, die nicht erzählt wird. 1973 hatte das Wohnungsbauprogramm der DDR Fahrt aufgenommen, ein paar Jahre später wird der Genosse Honecker in der millionsten Neubauwohnung sitzen und davon überzeugt sein, dass alte Kinos nicht braucht, wer massenweise neuen Komfort genießen kann.
Am letzten Februarsamstag herrscht auf der Berliner Friedrichstraße routinierte Betriebsamkeit. Es ist früher Abend, die Menschen drängen sich auf dem schmalen Bürgersteig unter der S-Bahnbrücke. Herausgeputzte eilen, so sehr das Herausgeputztsein ein Eilen gestattet, zu den Theater- und Kleinkunstbühnen an der Weidendammer Brücke. Andere machen Besorgungen, mit Tüten bepackt, in dem Rest Zeit, der bleibt zwischen allmählicher Erschöpfung und Tagesschau. Autos stauen sich zumeist einspurig, wo nicht, erkämpft sich die Straßenbahn vorwurfsvoll klingelnd ihren Weg, die Schaufenster leuchten hell. Die frühe Dunkelheit des Winters vervielfacht den Reiz, der vom Strahlen der Filialen ausgeht. Selbst der Laden eines Ramschbuchhändlers wirkt ob seines warmen Rots in dieser Jahreszeit wie ein befristetes Paradies.
Der Platz, an dem die Friedrichstraße auf den Boulevard Unter den Linden trifft, ist kahl rasiert. Nur bei näherem Hinsehen sind die grauen Betonplatten von den bräunlichen Rechtecken zu unterscheiden, auf denen jeweils ein Stummel an den Baum erinnert, der hier einmal gestanden hat. Hinter dem Platz liegt das Hotel Unter den Linden, ein unauffälliger moderner Bau, sechsgeschossig, hinter wenigen Fenster brennt Licht, die schlichte, aber wirkungsvolle Fassade aus gelben und blauen Paneelen lässt sich nur erahnen. Matt schimmert das Gold, das die Aluminiumtüren einst aufwerten sollte, in frischem Weinrot grüßen dagegen im Foyer die Umfassungen von Rezeption, Aufzügen und den drei Telefonplätzen gleich links vom Eingang, die nutzlos geworden sind. Ein zeitgemäß kleiner Apparat hängt noch verloren in dem Raum, den seine Vorgänger beanspruchten. Der freundliche Mann am Empfang händigt witzelnd die Schlüssel aus. Zimmer 554 liegt auf der Südseite, mit Blick auf Unter den Linden.
Berlin, wie es war heißt ein Film, der seit Jahren ununterbrochen nostalgische Sehnsüchte in der Hauptstadt befriedigt. Aber wie war Berlin? Die Aufnahmen in dem Film von Leo de Laforgue stammen aus den Jahren 1938 und 1939, fertig gestellt wurde der Film 1943, von den Nazis verboten, nach dem Krieg erstmals aufgeführt. Das wechselhafte deutsche 20. Jahrhundert - vom Kaiserreich, der Weimarer Republik, über Nazi-Regime und den Krieg, bis zu den beiden deutschen Staaten und dem schließlich wiedervereinigten Land - hat Spuren hinterlassen, und nirgendwo ist das besser zu sehen als in Berlin. Die Stadt ist planerisch und architektonisch ein Gemischtwarenladen der Geschichte. Die Neueinrichtung nach den Vorstellungen der jeweils aktuellen Politik fiel schon deshalb immer schwer, weil im Sortiment der bedeutsamen Stadt jede Epoche nur ihre besten und gewaltigsten Angebote ausstellen wollte. "Berlin, wie es war" ist eine Chimäre, die zur Orientierung nicht taugt. Abgesehen davon, dass das hieße, die dunklen, aber wirkungsmächtigen Kapitel der deutschen Historie auszublenden, stellte sich immer noch die Frage, wann Berlin gewesen ist, was es war.
Das "Haus der Schweiz" etwa mit seiner modernen glatten Fassade, das den Krieg als einziges Gebäude im Bereich von Friedrichstraße/Unter den Linden überstanden hat, existiert auf Bildern von 1918 noch gar nicht. An seiner Stelle steht ein neoklassizistischer Bau. Heute ist das "Haus der Schweiz" zum Kronzeugen des ursprünglichen Berlin nobilitiert. Jetzt wird ihm gegenüber das 1966 eröffnete Hotel Unter den Linden abgerissen. Die Lücke, die es hinterlässt, füllt während der Fußball-WM eine Leerfläche vollkommen. Bis 2008 soll noch ein neues Bürogebäude entstanden sein, das den Block bis zum Rand schließen wird. Der Platz vor dem Hotel verschwindet. "Stadtreparatur" nennt die zuständige SPD-Senatorin diesen Vorgang, um den Eindruck zu erwecken, Berlin werde nun endlich wieder, was es nie gewesen ist.
Das Zimmer 554 ist ein kleiner Raum. "Im Zuge der Entwicklung Berlins zur Hauptstadtmetropole erlebt insbesondere die Friedrichstraße ihren neuen Aufschwung mit dem Lindencorso, den Friedrichstadtpassagen, der Galeries Lafayette und dem Kulturkaufhaus Dussmann", heißt es ungelenk in dem Informationsblatt "Hotelvorstellung", das im Zimmer ausliegt.
Die Heizung, als unfreiwillige Reminiszenz an die Unregulierbarkeit der zentralen Fernwärme in den Neubauten der DDR, steht auf 5. Das Bad ist renoviert die Einrichtung des Wohn- und Schlafraums bis auf Fernsehapparat und Neues Testament die alte geblieben. So durcheinander geht es im ganzen Haus.
Das Hotel Unter den Linden war das zweite Interhotel, dass in der Hauptstadt der DDR eröffnet hat, nach dem Berolina hinter dem Kino International auf der Karl-Marx-Allee. Anders als die ab Ende der siebziger Jahre hinzugekommenen und nicht selten von westlichen Firmen errichteten Häuser wie das Metropol (heute: Maritim pro Arte), das Domhotel (Hilton) oder das Grand Hotel (Westin Grand) direkt gegenüber, ist das Unter den Linden nicht von einem namhaften Luxushotelbetreiber übernommen worden. Vermutlich hat sein jetziges Los damit etwas zu tun. Vor allem aber lässt sich dadurch nachvollziehen, wie sich ein Stück Osten mit bestem Bemühen und nicht ohne Erfolg in Westen umgewandelt hat.
Im Restaurant Tilia herrscht real existierender Eklektizismus. Nichts passt zueinander, aber alles gehört zusammen. Das originale Wandgemälde, das die Großstadtszenerien der zwanziger Jahre zitiert, verschwindet hinter der dunklen, abgenutzten Bar aus dem Berolina. Die gelben Sessel im Foyer stammen aus dem Grand Hotel, und dass sie keinen Stil erkennen lassen, mindert den ästhetischen Schrecken, den das Ensemble gemeinsam mit der Restaurantbestuhlung aus bunten, artdecoisierenden Riesenlehnstühlen und mit rotweißem Stoff bespannten Sitzgelegenheiten sowieso schon verbreitet. Ostdeutsch zu sein im wiedervereinigten Deutschland bedeutete im Fall des Unter den Linden die Verlängerung der Improvisation unter den Bedingungen der Marktwirtschaft - zu Ungunsten des Geschmacks, aber zum Vorteil für die Preisgestaltung. Beliebt war das Unter den Linden nach der Wende, weil sich billiger im Zentrum der Hauptstadt nicht wohnen ließ. Ab 57 Euro gab es ein Einzelzimmer, 98 Euro mussten für ein Doppelzimmer bezahlt werden. Die prominenten Namen, die durch die Anekdoten der Angestellten geistern, wurden ersetzt durch anonyme Busladungen westdeutscher Mittelstandstouristen. Die konspirative Atmosphäre, die Agenten, Westjournalisten und Diplomaten gleich hinter dem Grenzübergang Friedrichstraße verbreiteten, wich einer Normalität des Gemütlichen und Pragmatischen. Der frühere Sehnsuchtsort für Hochzeitspaare und DDR-Bürger, die einen anderen Grund fanden, dem einförmigen Alltag in ein Stück große Welt zu entfliehen, ist ein gewöhnliches Hotel. Noch am Samstag tönt der Hamburger Zungenschlag von Menschen durch den Raum, die ihr Arbeitsleben hinter sich haben.
Der letzte Abend wird nicht zum Leichenschmaus. 200 Gäste im Haus, das doppelt so viele beherbergen kann. Die meisten sind, der Grund ihres Aufenthalts, abends in der Hauptstadt unterwegs, deren Nachtleben vom Eckfenster des Tilia aus betrachtet ziemlich trostlos aussieht. Weil alles leer getrunken und aufgegessen werden muss, gibt es nur noch eine fragmentarische Speisekarte. Die russische Soljanka, einst Ausweis von Weltläufigkeit, ist lange aus, ab halb zehn bleibt die Küche kalt. Die Bar schließt wie gewohnt um Mitternacht, das letzte Bierfass ist geleert, Weinreste und Berliner Weiße sind das einzige, was auf vorsichtiges Drängen noch herausgegeben werden kann. So scheinen die Machtverhältnisse der DDR-Gastronomie, in denen der Gast ein Niemand und der Kellner König war, am Ende wieder auf. Die desillusionierte Angestellten sehen keinen Grund mehr, so kurz vor ihrer Entlassung Überstunden zu machen oder besonders zuvorkommend zu sein. Der Abend verläuft wie das Haus ist: unspektakulär. Irgendwann ziehen sich die letzten Gäste, mittlerweile mit Bier aus einem Dönerladen am Bahnhof Friedrichstraße versorgt, aus dem Foyer auf ihre Zimmer zurück. Im Fernsehen läuft stumm die Wiederholung das Biathlon-Rennens vom Tage.
Am Sonntagmorgen hat es geschneit. Das Weiß an der um diese Zeit ruhigen Magistrale unter den Linden hat etwas Friedvolles. Im Frühstücksraum, dem ehemaligen und zum Großteil noch im Original erhaltenen Hotelrestaurant mit seiner beeindruckenden Lampenkonstruktion, ist das letzte Büffet aufgebaut, viel Wurst, schlichter Käse, dünner Kaffee. Der Geschmack des Ostens. Gegen zehn hat sich der Parkplatz vor dem Hotel fast vollständig geleert. An der Rezeption werden Grüße an einen Mitarbeiter bestellt, der bei der weiblichen Kundschaft offenbar einen Schlag hatte. "Ja, der wird sich erinnern", verspricht die Empfangsdame den Abschiednehmenden.
Und wer erinnert sich an das Hotel? Sein Abriss ist ein gewöhnlicher Vorgang, begleitet von ein wenig medialer Wehmut und keinem Protest. Anders als bei mancher "Stadtreparatur" zuvor. Der Palast der Republik war ein Politikum, das korrespondierende Palasthotel ein frühes, strategisches Opfer, die Zerstörung des architektonisch reizvollen Ahornblatts eine Sünde. Aber das Hotel Unter den Linden? Normalität. Zur sentimentalen Rückbesinnung nur bedingt geeignet. Die eigenwilligen Würfel auf dem Dach, die auf die Frage "Wohin in Berlin?" mit den Logos der hauptstädtischen Kulturinstitutionen antworteten, sind vor Jahren demontiert worden. Die Schichten der Geschichte, die sich hier überlagern, kann man schwer auseinanderhalten. Das Hotel Unter den Linden ist ein Symbol des Gewöhnlichen, und gerade das stimmt melancholisch. Die Zeit rauscht. Ein Haus stirbt. Im Zuge der Entwicklung.
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