Fritz Marquardt war ein sehr eigener Charakter, was man schon daran merkt, dass es nicht leicht ist, ihn auf eine Profession festzulegen. Natürlich würde man zuerst sagen, dass Marquardt Theaterregisseur war. Aber dann fällt einem auf, dass Marquardt doch viel mehr war und irgendwie auch anders, als man sich Theaterregisseure gemeinhin vorstellt – kein Zampano seiner eigenen Wichtigkeit, sondern ein kleiner, zäher Mann, der nicht aufgefallen wäre, wenn er zur Frühschicht in einer Fabrik gehört oder die Felder irgendeiner LPG beackert hätte.
„Worüber Heiner Müller oder Peter Hacks in ihren Produktionsstücken bloß schrieben, das hat Fritz Marquardt selbst erlebt“, notierte der Theaterkritiker Wolfgang Behrens einmal, der das Buch Fritz Marquardt. Wahrhaftigkeit und Zorn gemacht hat. 1928 östlich der Oder geboren und 1945 in ein sibirisches Arbeitslager gesteckt, wurde Marquardt Neubauer im Oderbruch. Das Abitur machte er auf der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, anschließend studierte er Philosophie bei Wolfgang Heise in Berlin, um danach verschiedene Tätigkeiten auszuüben (u.a. Kreissekretär für Jugendweihe, Arbeiter im PCK Schwedt).
Marquardt war Redakteur bei Theater der Zeit, Archivar in der Volksbühne, Dozent in Babelsberg, ehe er, motiviert durch die Bekanntschaft mit Heiner Müller, selbst inszenierte. Müllers lange verbotenes Stück Die Umsiedlerin gehörte als Die Bauern 1976 zu Marquardts großen Theatererfolgen. Aufgeführt wurde es an der Volksbühne, wo er von 1969 an unter Benno Bessons Leitung arbeitete.
Seit den sechziger Jahren
Ab Mitte der achtziger Jahre war Marquardt am Berliner Ensemble, nach Manfred Wekwerths Rücktritt kurz als Intendant und dann als Teil des Fünferdirektoriums (neben Müller, Palitzsch, Zadek, Langhoff). Zermürbt von den Führungskämpfen trat Marquardt 1995 zurück und beendete mit der Ibsen-Inszenierung Eyolf sein Geschäft als Regisseur.
Auf ein für den eigenwillig-schweigsamen Marquardt vielleicht passende Weise blieb er dennoch anwesend, auch weil er die Menschen, mit denen er gearbeitet hatte, geprägt hatte. Damit sind zuerst Schauspielerinnen gemeint wie Corinna Harfouch, Carmen-Maja Antoni, Axel Werner oder Michael Gwisdek – und Hermann Beyer, „mein Hermann“, wie Marquardt in dem Dokumentarfilm Was ich am besten kann, ist schweigen von 2007 zärtlich sagt. Gedreht hatten die Dokumentation Eduard Schreiber und Regine Kühn, die, als damalige Frau und Autorin des Filmregisseurs Siegfried Kühn, Marquardt wiederum seit den sechziger Jahren kannte – als der für Kühn Schauspieler war.
Ein zweites Leben, mindestens, hat Fritz Marquardt also in Filmen geführt, gerade in Dokumentarfilmen, die weniger Zeitzeugenbiografiesicherung waren, sondern größere Zusammhänge beschrieben.
Die Uckermark etwa, Volker Koepps Landschaftsportrait von 2002, in dem der Feuilletonist Koepp irgendwann auch bei Marquardt vorbeikam. Der sagt in seiner immer etwas zögerlichen Art zu sprechen, ganz so, als müsse er sich die Worte abringen, dort den leichtfüßig-erratischen Satz, dass der Kommunismus eine sehr bequeme Religion für Intellektuelle sei.
Der wichtigste Dokumentarist Fritz Marquardts ist aber sein einstiger Assistent Thomas Heise, der Sohn des Philosophen. In Material (2009), Heises dreistündigem Epos aus lauter Fragmenten über die Zeitenwende von 1989, hat Marquardt so viele Auftritte wie sonst keiner. Man sieht ihn ratlos vor dem Bühnenbildmodell seiner Inszenierung von Germania sitzen, weil er nicht weiß, wie er die zu Ende bekommt in den bewegten Zeiten. Man erfährt etwas von der Detailversessenheit des nie realistischen, nie naturalistischen Spiels, das Marquardt wollte, wenn mit Heiner Müller an der richtigen Betonung von „Kö-nich“ geprobt wird.
Am 10. November
Und die Maueröffnung ist in Material eine Anekdote mit Fritz Marquardt, die aus dem Off zu Bildern einer S-Bahn-Fahrt erzählt wird. Wie Heise mit Marquardt und einem Schauspieler am 10. November vom Theater zur Mauer geht, auf der Leute sitzen: „Fritz sah die Szenerie, ging nicht weiter und murmelte, gleich kommen die Panzer.“ So geht die Nachkriegszeit zu Ende für jemanden, dessen Leben nicht von der Euphorie getrieben war, sich das vorstellen zu können.
Dass Marquardt der bescheidenste Hauptdarsteller war, den man sich denken kann, ist in seinem bekanntesten Film zu sehen, Kühns Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow von 1973, die Altersbelebungsmaßnahme eines Bahnwärters als bunte Groteske. Marquardt sagt auch als Protagonist nicht viel, ist mal Buster Keaton, mal verwegen wie ein Liebhaber, und am Ende entlässt ihn der sehr formbewusste Film fast dokumentarisch unter den Menschen auf der Straße. „Das ist der ganz berühmte Eisenbahner, er ist überall inkognito“, erklärt eine Frau ihrem Jungen hinterher. Vielleicht trifft das ganz gut, wie man Fritz Marquardt beschreiben kann.
Es gilt natürlich für jeden Menschen, aber bei Fritz Marquardt fällt es einem besonders auf: So einen wird es nicht noch mal geben. Am 4. März ist er im Alter von 85 Jahren in Pasewalk gestorben.
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