Frage: Wieso hat der Schriftsteller K. der Stasi seine Dienste angeboten? Antwort: „Dafür gab es praktische Gründe, die ich auch gar nicht verurteile. Mein Gott, er war ein 18-jähriger Junge! Er wollte ein angenehmes Leben in Ost-Berlin, das er von den Offiziellen dann als Gegenleistung bekam. Außerdem plante die Restfamilie den Umzug nach Berlin. Ich glaube, dass die Familie mehr in inoffizielle Mitarbeit involviert war, als man bisher dachte; die haben das quasi als eine Art Freibrief betrachtet, die erhofften sich davon die Möglichkeit, leichter nach Berlin zu kommen, wohin man damals nicht so ohne Weiteres ziehen konnte. Das hätte jedem passieren können. K. wollte ja kein Agent im Trenchcoat oder ein James Bond werden, sondern sich ein sorgenfreies Leben im ‚Schaufenster des Sozialismus‘ erspionieren.“
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Einmal angenommen, den hier geschilderten Fall hätte es tatsächlich gegeben – wie würde die veröffentlichte Meinung darüber urteilen? Würde die Erklärung des befragten Experten, der angeworbene IM sei jung gewesen und interessiert an einem angenehmen Leben, vor dessen moralischer Diskreditierung schützen?
Den hier geschilderten Fall gibt es tatsächlich. Er ist jüngst öffentlich geworden, das Zitat stammt aus einem Interview in der FAZ, nur sind in ihm ein paar Worte ersetzt worden: Spion durch IM, Wiesbaden/Westen durch Ost-Berlin, CIC (die Vorgängerorganisation des CIA) durch Stasi, Freibrief durch Reisepass, „Schlaraffenland“ durch „Schaufenster des Sozialismus“. K. ist der Schriftsteller Walter Kempowski.
Passiert ist: nichts
Und was ist passiert? In der FAZ hat ein kurzer Wortwechsel zwischen dem hier befragten Literaturwissenschaftler Keele und einem weiteren Professor stattgefunden, der gegen die von Keele veröffentlichten Anschuldigungen protestierte. Keele hat darauf insistiert, dass die von ihm verbreiteten Erkenntnisse der Wahrheit entsprächen. Passiert – im Sinne einer Aufklärungslogik, wie sie in anderen Fällen zur moralischen Infragestellung von Person und Werk geführt hätte – ist: nichts.
Es geht nicht um Walter Kempowski. Sondern um die unterschiedliche Rhetorik, die das Reden über die Vergangenheit der beiden Teile Deutschlands seit ihrer Vereinigung begleitet. Es verläuft in den immergleichen Bahnen; mag der Redeschwall sich auch kräuseln, er tritt doch nie aus dem ihm zugewiesenen Kanal. Könnten nicht die Enthüllungen über Kempowski eine Diskussion anregen, sich einmal kritisch mit den Anteilen des Westens am Kalten Krieg zu befassen?
Bis heute ist kein prominenter Fall eines westdeutschen IMs bekannt, der – weil er an die DDR glaubte oder auch nur ein angenehmes Leben im „Schlaraffenland“ haben wollte – mit der Hauptabteilung XV (Auslandsaufklärung) zusammengearbeitet hat. Bis heute gibt es nur einen Film (Die Unberührbare von Oskar Roehler), der gezeigt hat, was der Fall der Mauer für den Westen (und, in diesem Fall, die Linke) bedeutete, derweil alle drei Monate irgendein Fernsehschmonzes die Wende nachspielt. Bis heute gibt es allenfalls Ansätze, die Doping-Aufarbeitung im Sport nicht auf das funktionierende DDR-System zu beschränken, und zu fragen, warum die BRD in den achtziger Jahren nicht genauso effizient gewesen ist. Beziehungsweise warum man ehemalige DDR-Trainer verlogen großzügig wiedereingliedert, solange sie Medaillen für Gesamtdeutschland garantieren?
Freundliche Worte zugezogener Ministerpräsidenten
Die DDR ist 20 Jahre nach ihrem Ende tot. Und in ihrer Starre ungemein lebendig. Wer will, kann sich an ihr wärmen, und wer das nicht will, führt ihre Kälte ins Feld. Die Worte „DDR“ und „Erinnerung“ können nicht gesagt werden, ohne sich von „Nostalgie“ zu distanzieren. Die Kehrseite solch demonstrativer Entschuldigungen sind die freundlichen Worte von zugezogenen Ministerpräsidenten, die Wahlen gewinnen wollen. Dabei müsste ein Geschichtsbewusstsein, das diesen Begriff verdiente, gerade im Dazwischen siedeln. Aber im Lauwarmen gehen die wenigsten gerne baden, weil sich nicht sofort sagen lässt, wo man sich dann befände. Der Reiz der jüngsten deutschen Geschichte für die Gegenwart liegt nicht darin, Schulkinder Stasi-Gefängnisse abzufragen wie Französischvokabeln, sondern sensibel zu machen für die Erfahrung eines Bruchs. Warum endet die Relevanz von Bärbel Bohley für die deutsche Geschichte 1990 – was sagt das über das neue Deutschland, wenn Menschen, denen die große Politik eben noch für ihren Mut die Hand schüttelte, im nächsten Moment hier keinen Platz mehr haben?
Die jämmerliche Ungleichzeitigkeit der gegenwärtigen Vorstellung von Geschichte führt ausgerechnet Angela Merkel vor Augen: Die erinnerungspolitische Praxis fällt hinter die symbolische Ordnung zurück. Da gibt es nun eine ostdeutsche Bundeskanzlerin – und dann muss sie für Westdeutsche, die den Mauerfall nicht verkraftet haben, Ausstellungen über Grundgesetzkunst eröffnen. Oder betroffen durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen laufen, als wäre sie Horst Köhler und hörte von der Stasi zum ersten Mal.
Man mag sich nicht vorstellen, wo die so genannte Aufarbeitung 20 Jahre nach 1989 stehen würde, läge ihr nicht ein christlich-abendländisches Verständnis von Schuld und Unschuld zu Grunde. Womöglich gäbe es: Freiheit. Des Redens. Der Rhetorik. Wie unerhört.
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