Künstler vs. Varroa-Milbe 0:1

Respektiertes Areal Was alles die Kunst ist: Zu Besuch bei Olaf Wegewitz in Huy-Neinstedt in der Nähe von Halberstadt, kurz vor dem Harz

1 Friedlich. Das ist tatsächlich das erste Wort, das einem in den Sinn kommt, wenn man durch die Toreinfahrt hindurch ist und noch bevor Olaf Wegewitz „friedlich“ gesagt hat. Man denkt „friedlich“, und das ist ein schönes Gefühl, weil dieses „friedlich“ eine faustische Insel ist, ein Augenblick, in dem man verweilen möchte; wenn nur die ganze Welt so wäre, würde sie ins Reine kommen, denkt man.

Die Toreinfahrt, durch die man hindurch muss, steht in Halberstadt. Halberstadt, der Schlenker muss sein, ist eine prekäre Stadt und gerade deswegen reizvoll. Einmal war Halberstadt vor dem Harz eine schöne Stadt mit stolzem Bürgertum, das meiste Fachwerk in ganz Deutschland. Die Nazis wollten eine Modellstadt draus machen, kurz vor Kriegsende wurde Halberstadt zerstört, „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. Mai 1945“ heißt eine Erzählung von Alexander Kluge, der hier geboren wurde, von 1977. Die DDR hat auch versucht, eine Modellstadt draus zu machen, nach 1989 haben die Hoffnungen noch einmal kurz geblüht. Jetzt ist alles zu groß für die leichte, sonntagsleere Tristesse, die den Weg begleitet vom Bahnhof, der gerade gemacht wird, zum Zentrum – zu groß für das Pathos der modernistischen Gemeinschaftsbauten aus der DDR-Zeit, zu groß für den von billigen Subventionsgeldern getriebenen Büroflächenfunktionalismus der frühen neunziger Jahre. Halberstadt hat immer noch eine Altstadt, immer noch einen Dom. Aber wenn die durchweg schmucken Nachbarstädte Quedlinburg und Wernigerode aus der Perspektive des Touristen wie Geigen- und Celloschüler sind, die etwas steif und eiligen Schrittes des Nachmittags zum Konservatorium gehen, dann ist Halberstadt der Sitzenbleiber, der gelangweilt mit Steinen nach den Glühbirnen in den Straßenlaternen wirft. Das nimmt ein für Halberstadt, man kann hier die Narben des deutschen 20. Jahrhunderts sehen.

Hinter der Toreinfahrt nun stand früher die Synagoge von Halberstadt. Die Nazis haben sie von der Gemeinde abtragen lassen. 70 Jahre später, 2008, wurde hier ein so genannter Denk-Ort eröffnet, mit dem schönen, kindlich-trotzigen Titel Und der Lebende nehme sich das zu Herzen. Gestaltet hat ihn Olaf Wegewitz, der Künstler aus Huy-Neinstedt. Er hat den Grundriss der alten Synagoge sichtbar gemacht, die Wege in dem Gotteshaus freigelegt, den Thoraschrein, das Vorlesepult, an der einen Seite die Ecke etwas angehoben, Platten vom alten Eingangsbereichs an die Stelle des alten Eingangsbereich gelegt. Und dazwischen wachsen lassen, angepflanzt, was wächst, wenn der Mensch sich nicht mehr kümmert. Ruderalflora. Aus der Perspektive des gewöhnlichen Touristen: Unkraut. Die Schönheit des Natürlichen ist für viele Menschen nicht gleich erkennbar, Wegewitz erzählt von den Kontroversen, die es um seine Anlage des Ortes gegeben hat. Dabei ist „natürlich“ hier gar nicht das richtige Wort, die Gräser und Blumen zwischen Platten etwa hat Wegewitz selbst angepflanzt, weil er das nicht dem Zufall überlassen wollte, obwohl er dem Zufall immer etwas überlässt. Das erzählt vielleicht am meisten von seiner Genauigkeit, seiner Zugewandtheit zum Ort, zum Material: in den Ritzen, in denen der Kleingärtner am Samstagnachmittag barbusig Unkraut jätet, pflanzt er an.

Natur ist hier an diesem Ort eine Balance von Ordnung und Ungeordnetheit, der Rahmen wird klar abgesteckt, die Kanten werden ebenso freigehalten wie die Terrakottafliesen, die wie ein Herbarium 78 Pflanzen aus der Bibel abbilden. Aber innerhalb dieses Rahmens wächst es. An der Stelle, wo einmal die 72 Thorarollen der Gemeinde standen, liegt nun ein Steinquader mit 72 Vertiefungen. Er habe sie so angeordnet, dass man sie nicht zählen könne, sagt Wegewitz mit einem im ersten Moment vielleicht wunderlichen, aber sofort einleuchtenden Ernst, er habe so lange probiert, bis er es nicht mehr geschafft habe, 72 sei doch eine Zahl, die man sich schon schwer vorstellen könne.

So ist es also friedlich geworden, wo in Halberstadt einmal die Synagoge stand. Man kann sich, ganz tief empfunden, keinen besseren Umgang mit der dunklen Vergangenheit, kein würdigeres Gedenken vorstellen. Was hier wächst, ist in seiner arrangierten und gelassenen Ungeordnetheit die Verlängerung der Geschichte ins Heute. Kein Ende, kein Abschneiden, es wächst einfach weiter. Die sanfte Strenge, mit der das Portrait des Gewesenen gezeichnet wird, lässt Raum für den Schmerz und die Grausamkeit, die dem Ort seit 1938 ff. eingeschrieben sind. Jeder feste Bau, jedes akkurate Beet hätte dem Boden nur aufs Neue Gewalt angetan. Vielleicht begreifen das die Touristen irgendwann. Man kann hier sehen lernen. Schönheit und Ordnung sind nicht, was der Gartenmarkt verspricht.

2 Sportlich. Ist das falsche Worte, das merkt man sofort, aber es kommt einem wiederum in den Sinn, wenn man mit Olaf Wegewitz im Garten seines Bauernhauses sitzt in Huy-Neinstedt, noch mal 15 Kilometer von Halberstadt weg, und über sein Verhältnis zu seiner Kunst spricht, über andere Projekte, etwa die Skulptur – Gewächshaus in Magdeburg. Die hat er gemeinsam mit Johanna Bartl und Wieland Krause gemacht, das Skelett eines Gewächshauses aus dem ehemaligen Kraftwerk Vockerode, wo die DDR mit der überschüssigen Energie Treibhausgemüse angebaut hat, darin, darunter ein eingezäuntes Areal, und darin: das, was da jetzt wächst. Natur. Kunst ist an dem „Gewächshaus“ für Wegewitz alles, von der Planung, der Erforschung, der Website, der langen Überzeugungsarbeit, bis zur Realisierung 2005, als das Land Sachsen-Anhalt der Stadt Magdeburg die Skulptur geschenkt hat. Da steht sie nun im Skulpturenpark des Kunstmuseums. Für Vandalismus – vielleicht stimmt dieser Begriff aber gar nicht – ist das Gewächshaus kein Ziel, andere Werke im Skulpturenpark sind es schon. Das ist interessant: Die Jugendlichen, die – und so kann man Vandalismus eben auch verstehen, auch wenn man damit nicht viel Zustimmung ernten wird – sich auch irgendwie ausdrücken müssen, die mit ihren Energien und Gefühlen irgendwo hinmüssen in der determinierten Welt, erkennen im Brachenhaften, Vorläufigen, Offenen des „Gewächshauses“ kein Feindbild.

Nur der Bürgermeister will nicht aufhören, die Skulptur weghaben zu wollen. Das gehört dann auch noch zur Kunst, und das ist der Moment, wo einem „sportlich“ einfällt, was so klingt, als würde man Wegewitzens Kampf und den seiner Kollegen fürs Objekt nicht ernst nehmen. Aber nur meint, dass Kunst im Fall, der Bürgermeister sollte noch gewinnen, dann eben auch hieße: mit dem „Gewächshaus“ wäre es vorbei. Denn was der Bürgermeister nicht begreift, ist ja gerade wieder diese Balance aus Ordnung und Freiheit. Es wächst zwar überall was, aber wenn man sich einmal dafür entschieden hat, dass in dem „Gewächshaus“ nun das wächst, was da aus dem Boden des Skulpturenparks kommt, dann kann man nicht einfach woanders von vorne anfangen, dann ist das jetzt da das Kunstwerk. Wer mit dem Zufall arbeitet, muss streng sein können. Andernfalls gliche der Künstler Olaf Wegewitz einer Fee, die durch den deindustrialisierten Osten fliegt und an jeder zweiten Brache ihren Zauberstab schwingt – Sei auch du Kunst! So geht es nicht.

3 Wie das Thomas Mann gemeint hat, ist im Moment egal, wenn man darauf kommt, dass die ganze Existenz von Olaf Wegewitz nur als ästhetisch zu bezeichnen sei. Auch wenn dazu Sachen gehören, die man auf den ersten Blick nicht als Kunst verstehen würde: das Auf-du-und-du-Sein mit der Natur, die Wanderung entlang des 11. Längengrads durch Deutschland (von Fehmarn bis zur Zugspitze) mit dem Sohn im letzten Jahr, die gerade in ein 100-Meter-Rollbild übersetzt wird, das Essen, das so gut aussieht, weil es sich zum Teil eigenem Anbau verdankt, die Herbarien, die Plantage, auf der er ein paar Kilometer weiter Obst und Gemüse anbaut, die Beschäftigung mit den Bienen, die er schließlich beendet hat, weil der Kampf gegen die Varroa-Milbe mit natürlichen Mitteln nicht zu gewinnen war. Das Dachdecken („beim ersten Mal macht man viel Mist“). Die Wanderungen durch den Huy, das kleine Gebirge vor dem Harz, seit die Familie wegen einer Anstellung von Frau Ingund, einer Kunsthistorikerin, Anfang der achtziger Jahre aus Leipzig hierher gezogen ist. Bei den Wanderungen durch den Huy dem vergessenen Landschaftsarchitekten Georg Pniower auf die Schliche zu kommen, der Windschutzriegel errichtet hat aus Gehölz zum Schutz der Landwirtschaft. Das Bauernhaus. Die Künstlerbücher, die er in kleinen Auflagen macht. Und etwa der Minierfliege widmet, und da zeigt Wegewitz ein Blatt („geht man sonst dran vorbei“), auf dem eine Made einen „Fresskanal“ hinterlassen hat, der aussieht wie ein Muster, wie Kunst, was Wegewitz dann wiederum malt. So könnte es weiter gehen mit dem Aufzählen. Er sei Künstler, sagt Wegewitz, wenn er gefragt wird, was er sagen würde, wenn er sich erklären soll. Außer auf den Formularen, wo schon stehe, was man sein darf. Kunst ist hier gleich: Naturbeschäftigung durch Erkenntnisinteresse plus Handwerk minus sachtem Nutzen mal Sinn für Schönheit. Es geht auch hier um eine Balance. Ökologie wäre ein anderes Wort; über deren faszinierende Komplexität kann man mit Olaf Wegewitz stundenlang reden. Wenn man sich mit der Natur beschäftigt, wie Wegewitz, wird man nicht demütig in so einem Dauergesenkter-Schopf-Sinne, man wird bescheiden und höflich. „Respektiertes Areal“ heißt eine Landschaftsarbeit.

4 In dem Dokumentarfilm Die Behauptung des Raumes von Claus Löser und Jakobine Motz aus dem letzten Jahr geht es um „Wege unabhängiger Ausstellungskultur in der DDR“, vor allem aber um die Galerie Eigen+Art in Leipzig. Olaf Wegewitz ist in dem Film kurz sehen, er hat Anfang der achtziger Jahre in Leipzig mit den Künstlern Huniat, Dammbeck, Grimmling, Firit und Heinze eine Messehalle angemietet, um Leute auszustellen, die nicht ausgestellt werden konnten, weil sie keine staatlich anerkannten Künstlern waren. Der Plan klappte, auch dank eines befreundeten Rechtsanwalts und ein paar Tricks, der 1. Leipziger Herbstsalon. In Röderhof, zehn Kilometer von Halberstadt entfernt, hat Wegewitz mit einem Verein seit Ende der achtziger Jahre ein Haus hergerichtet, in dem heute Künstler mit Stipendien leben dürfen: Leute kriegen Zeit, um kreativ zu sein. Im Nachhinein wirkt alles logisch, sagt Olaf Wegewitz, wenn er seinen Weg beschreibt: vom Segelflieger und Traktorenschlosser zur Beschäftigung mit dem Bauhaus und den Avantgarden, den privaten Malkursen bei Professor Schulze, dem Interesse fürs Material bis zu eigener Papierherstellung („Papier ist keine Fläche, sondern ein Raum“), vom Papier zum Buch.

Die Natur macht keine Sprünge, heißt es bei Leibniz. Für Olaf Wegewitz geht es tatsächlich immer noch um die Behauptung des Raumes. Mit friedlichen Mitteln.


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