Erinnerung und Farbe sind frisch. In Dresden hat vor zwei Wochen das Kleine Haus wiedereröffnet, das Anfang und Ende des DDR-Theaters markiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg feierte das Schauspiel in dem vormaligen Gasthof, Konzertsaal und Kirchenraum am 10. Juli 1945 seine erste Premiere, weil sonst kein Theaterhaus in der Stadt mehr stand. Am 12. April 1989 erlebte Christoph Heins Stück Die Ritter der Tafelrunde hier seine Uraufführung, als Parabel auf das Ende vom Sozialismus. Zu den Eröffnungspremieren kam am letzten Samstag ein Stück mit dem Titel Zwischen Liebe und Zorn, als dessen Autor Fritz Kater angegeben ist. Das ist zweimal nicht ganz richtig, denn es gibt weder ein Stück von Fritz Kater, das so hieße, noch gibt es Fritz Kater. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich Armin Petras, der am Tag der Premiere nicht weit entfernt, in Kamenz, den Lessing-Preis entgegengenommen hat. Petras - 1964 geboren in Meschede, 1969 mit Familie in die DDR übergesiedelt, 1988 wiederum in die BRD ausgereist - inszeniert zur Zeit in ganzen Land, Frankfurt/Main, Hamburg, Berlin, Leipzig, zumeist die Stücke, die er selbst schreibt, die - im Gegensatz zum anderen bekannten auteur des deutschen Theaters, René Pollesch - andere schon immer inszenieren dürfen.
Hinter Zwischen Liebe und Zorn verbergen sich gleich drei Stücke von Kater - zeit zu lieben zeit zu sterben, Sterne über Mansfeld und WE ARE CAMERA/jasonmaterial -, deren Titel inklusive Klein- beziehungsweise Großschreibung man so bemüht kunstvoll finden mag wie das offensichtliche Autoren-Alias des Regisseurs. Gerade das generalisierende Label der Dresdner Spielfassung, die Regisseur Tilman Gersch gemeinsam mit Dramaturgin Dagmar Borrmann erstellt hat, zeigt aber, wozu Petras´ Kunstwille gut sein kann: um im Beliebigen noch das Spezielle zu markieren. Petras´/Katers Schreibverfahren könnte man induktiv nennen: Kleinsterinnerungen setzen sich zu einem Mosaik von Geschichte zusammen und erzählen im Prozess ihres Zusammensetzens immer auch eine Geschichte, was Petras von Pollesch unterscheidet. Gerade durch die Häufung von Erinnerungen, die manchmal Figuren, aber nie Subjekten zugeschrieben werden, entzieht sich Petras/Kater jener einfachen Identifizierungsbiographik wie sie in Generationen-Sachbüchern betrieben wird.
Anders gesagt: Zwischen Liebe und Zorn" ist als Titel so allgemein, dass man damit vermutlich fast jedes Drama seit Antigone überschreiben könnte. "Anders gesagt" ist ein schönes Stichwort für Gerschs Inszenierung, die wie ein Kontrastmittel sichtbar macht, was an Kater-Texten problematisch sein kann. Die Zusammensetzen der drei Stücke erscheint auf den ersten Blick sinnvoll, lassen sie sich doch chronologisch auf die Linie Kindheit ohne Vater (CAMERA), Jugend mit großen Plänen (zeit), Erwachsensein mit Nachwende-Ernüchterung (Sterne) bringen. Der dreistündige Abend macht aber etwas anderes deutlich: dass die Stücke, die für kleine Bühnen gedacht sind, in purer Addition nichts gewinnen, weil ihnen der große dramatische Bogen fehlt und das Zufügen immer weiterer Erinnerungssplitter irgendwann beliebig wird. Petras´/Katers Stücke - ähnlich wie die von Pollesch - sind Teile eines großen Textes, der besser als Serie über mehrere Abende verteilt inszeniert wird denn als Marathon in einer Nacht. Die größere Gefahr aber besteht darin, dass aus dem Vagen der Erinnerungsfetzen eine schicke Kittelschürze des DDR-Rückblicks geschneidert wird, dass man die Biographiensplitter zur gehobenen Ost-Revue montiert. Gerschs Inszenierung kommt dem an manchen Stellen bedrohlich nahe, was vor allem daran liegt, dass die Schauspieler (etwa Nele Jung, Thomas Martin oder Holger Bülow) sich in eifrige Eindeutigkeit stürzen, jede Figur zum Typen machen wollen statt als Person zu bewahren. So geht das Beiläufige von Petras´/Texten verloren.
Die Inszenierungspraxis des Theaters ist eine Form der Erinnerungsarbeit. Man nimmt sich Texte, die vor langer Zeit geschrieben worden sind, und spielt sie in der Gegenwart durch. Dass sie aktuell sind, basiert auf der Annahme, in den alten Texten sei ein zeitloser Kern eingeschlossen, den man auf der Bühne problemlos im Gehäuse jeder Jetztzeit unterbringen kann. Womöglich ist das aber nur ein frommer Wunsch der Dramaturgie und alle Theaterarbeit Archäologie. Wie so was aussieht, zeigt Armin Petras gerade in den Kammerspielen des Deutschen Theater in Berlin. 3 von 5 Millionen heißt das Stück, das Petras - als Fritz Kater - verfasst und zur Uraufführung gebracht hat. 3 von 5 Millionen ist eine Bearbeitung von Leonard Franks Arbeitslosigkeits-Roman Von drei Millionen drei aus dem Jahre 1932, und im ersten Teil dient alle Bearbeitung nur dazu, sich Frank vom Leibe zu halten, also gerade nicht zu aktualisieren. Auf einem Laufsteg vor der Bühne präsentiert ein "Conferencierge", wie das Programmheft Thomas Schmidts Rolle ausschreibt, die Geschichte von Schreiber (Margit Bendokat), Schneider (Katharina Schmalenberg) und Arbeiter (Christine Schorn), die von Würzburg nach Argentinien und über Südfrankreich und Italien zurück nach Berlin durch die ganze Welt kommen wegen der Arbeit, die es nicht gibt. "Wir haben noch 70 pfennig/ und erst wenn die alle sind wissen wir wirklich/ wie es ist ohne alles zu sein", heißt das Credo der Verzweifelten, die am Ende ausgemergelt und nur noch zu zweit sein werden. Der Regisseur Petras macht daraus einen harmlos-illusionistischen Budenzauber: die Drei tippeln und tappeln in Sepia, alle Requisiten sind aus comichafter Pappe und im Hintergrund laufen animierte Knetfilme, die Landschaften vorstellen. Es ist kurzweilig, den drei Damen zuzuhören, vor allem Margit Bendokat, die sich märchenhaft zögernd um die Naivität ihres eigenen Sprechens herumdrückt, und der Hund Hammelchen, den die Puppenspielerin Steffi König bedient, ist auch recht hübsch.
Aber weil Theater keine Archäologie sein soll, bleiben nach der Pause ein paar Plätze frei. Armin Petras ist, als Autor wie als Regisseur, kein Verwurster, er filettiert in feinen Scheiben. Die Erinnerungen, aus denen seine Texten bestehen, mögen noch so kleinteilig sein, die interpunktionslose Kleinschreibung wie ein Strom wirken; am Ende ist, erst recht durch die Inszenierung, alles immer klar voneinander zu trennen. So auch hier: Leonard Franks Vorlage ist reine Vorlage, die Aktualisierung folgt separat in Teil drei und dazwischen steht als Scharnier ein Monolog (Bacon spricht) über die Arbeit des Künstlers: "Das finde ich das schwierigste einen eigenen Stil zu finden". Milan Peschel versöhnt die Dagebliebenen in einem Bienenkostüm, das seiner mauligen Launigkeit, einer nörgeligen Mischung aus Großkotzigkeit und Desinteresse, widerspricht. Jetzt geht es mit dem Theater als Erinnerungsarbeit also richtig los. Geht es, aber richtig wird es bis ans Ende nicht. Franks Arbeitslosigkeitsmär heute heißt für Petras/Kater, das gewohnte Spiel mit der Erinnerung an eine Jugend um ein Thema herum zu gruppieren. Das Thema ist Arbeitslosigkeit und das bedeutet für den dritten Teil des Abends, Müggelperle: Drei Freunde, Dirk (Milan Peschel), Sebi (Peter Kurth) und Martin (Thomas Lawinky), erinnern sich gemeinsam an ihre Tage auf der Kunsthochschule, an eine Kindheit im Alfred-Brehm-Haus des Berliner Tierparks oder auf dem Polenmarkt am Bahnhof Lichtenberg und so weiter, und machen, weil der Altenpfleger ein Altenpfleger geblieben und aus dem Schauspieler und dem Drehbuchautor nichts geworden ist, einen Bruch. Das geht nicht gut aus, nur einer, Dirk, kommt durch, und dem ist der Müggelsee was den dreien bei Frank noch der Ozean auf dem Weg nach Argentinien war: die Pfütze einstmals großer Hoffnungen. Tatsächlich ist dieser Verweis auf das Knetfilm-Meer aus dem ersten Teil das schönste Bild: Wie Milan Peschel an die Rückwand des neonröhrenbehangenen, nach oben offenen Bretterverschlags (Bühne: Annette Riedel/Bernd Schneider) mit blauer Farbe ein Boot malt, ein Segel, das Wasser und Möwen, und wie sich, obwohl es so einfach ist, der Raum weitet bis zum Horizont. Petras Inszenierung des dritten Teils hält die Balance zwischen der Abstraktheit des leeren Raumes und der Konkretheit der geschilderten Erinnerungen. Ihr Grundton ist Wehmut, wenn sie, wie Dirk am Ende einer vorbeigegangenen Jugend nachsinnt ("meine leutchen/ sollen sich bewegen/ nich vergessen/ versager verletzte und verlierer/ alles idioten/ alte idioten/ mag ich"). Deswegen scheut sie Kalauer wie Peter Kurths eindrucksvoll wabernden Bauch noch nicht. Oder dessen Anläufe, mit sich zum Panzer steigernden Gerät in eine gespielte Bank einzubrechen, um am Ende festzustellen, dass geschlossen ist. Das Problem ist nur: Was hat die Pack-schlägt-sich-Pack-verträgt-sich-Beschwörung einer langen Freundschaft mit den Videobildern von wartenden Menschen auf einem Arbeitsamt zu tun, die ab und an auf die Rückwand projiziert werden? 3 von 5 Millionen illustriert den gescheiterten Versuch, dem beständigen Drehen von persönlicher Erinnerungszuckerwatte die Bitterkeit eines Massenschicksals namens Realität beizumischen.
Glaube II steht über den kommenden drei Monaten im Studio, der Nebenspielstätte des Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Glaube I hieß im vergangenen Herbst der charmante Versuch von Bruno Cathomas, der Bibel dramatischen Gehalt abzugewinnen. Glaube II hat 40 Jahre DDR im (Rück)Blick: ... und der Zukunft zugewandt. Die Gesamtleitung obliegt Annette Reber, Peggy Mädler und Armin Petras, dem ab 2006 die Leitung über das gesamte Gorki-Theater obliegen wird. Der Plan der Retrospektion folgt den Gesetzen des Ausschweifens: 53 verschiedene Programme sollen bis Anfang April Premiere haben, höchstens zweimal gespielt werden, der Großteil nur einmal. Im Einheitsbühnenbild mit schlecht verteerten Betonbodenplatten, steinernen Abfallkübeln und zwei Parkbänken vor einer Fototapete mit Neubaublöcken wird die DDR erforscht anhand von literarischen Texten (1980: Fühmanns Im Berg; 1960: Welskopf-Henrichs Die Söhne der großen Bärin), interessanten Phänomenen (1955: Comics der DDR; 1972: Telelotto - 5 aus 35) und gesellschaftlichen Ereignissen (1974: BRD-DDR 0:1; 1959: Bitterfelder Konferenz reloaded). Ein wenig ist der Aufbau wie in den Stücken von Petras´/Kater: Der Rahmen steht fest (durch den Plot), aber die Erinnerungsatome schwirren frei herum. Der Zuschauer muss eine solche Anordnung mögen, weil sie das Risiko hoch veranschlagt und das Scheitern einkalkuliert. Zur Anekdote von der X. Fernschacholympiade, die 1987 zwischen zehn Staaten begonnen und 1995 aufgrund der langen Beförderungswege zwischen sechs Staaten beendet wurde (1990: Das Lob des Feiglings wird niemand singen) fielen Volker König etwa lediglich ein paar Ost-West-Klischees ein. Britta Schreibers Versuch, die Drei Schwestern-Fortschreibung in die späte DDR durch Volker Braun abermals fortzuschreiben (1988: Die Übergangsgesellschaft) kam über dürftige Quizspielchen und Ebay-Anspielungen nicht hinaus. Hans-Werner Kroesinger hingegen zeigte, was Dokumentartheater vermag: Über drei Stunden zog sich seine mit fünf Schauspielern und unter der Leitung von Armin Dallapiccola nachgestellte Sitzung des Runden Tisches von 1990. Quälend dehnte sich, was einst revolutionäre Spannung besaß und die Teilnehmer zur Titel gebenden Äußerung Die Zeit scheint gegenwärtig schneller zu laufen. Bei aller Anstrengung war Kroesingers mit Märchen durchsetzte Strichfassung der Protokolle ein Abend, an dem die Grenze zwischen Theater und Publikum auf wundersame Weise verschwand: In den als Sitzungsunterbrechung angesagten Pausen etwa bat eine Schulklasse, die über den Wortlaut der Politbürokratie zwischen DDR und BRD stöhnte, Darsteller Dallapiccola, den sie aus Fernsehserien kannte, um Autogramme.
Armin Petras hat einen Abend über den 1990 unter einer Straßenbahn gestorbenen Aktionstexter Matthias "BAADER" Holst inszeniert (1987: All die toten Albaner auf meinem Surfbrett). Mit einer Band (Tatjana, Trötsch, Benno Verch), die in Sachen späte DDR-Bohème Glaubwürdigkeit verbürgte, mit den üblich-melancholischen Schwarzweißfotos aus dem Alltagsleben der achtziger Jahre, mit Gunnar Teuber und einer wunderbaren Christina Große, die "BAADER" Holsts Texte rezitierten und nebenbei die Entwicklung eines Paars vom Verlieben übers gemeinsame Kind bis zur Trennung durchspielten. Man fühlte sich zurückversetzt in eine weit entfernte Zeit, und der Untergang einer verlorenen Utopie kehrte als Privatgeschichte wieder. Als Enttäuschung von Hoffnungen, die einstmals gehegt wurden. Nichts anderes heißt bei Armin Petras Erinnerung.
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